SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
auch immer, innerhalb welcher Staatsgrenzen auch immer sie leben.« Nur nicht innerhalb der deutschen Grenzen. Merkel hat ein Herz für Zigeuner, solange sie schön bei sich bleiben. Wehe, sie kommen auf die Idee, das Versprechen in Deutschland einlösen zu wollen. Dann redet Innenminister Friedrich vom »Missbrauch unseres Systems« und will mit vereinfachter Abschiebung und neuen Visaregeln die Flucht der Verfolgten aus Serbien und Mazedonien stoppen.
Mit solcher Politik macht die Partei Punkte bei einer Schicht, die die Wahlforscher schon zu Beginn des neuen Jahrhunderts in der Union entdeckt hatten, wie man einen Hausschwamm im Keller entdeckt: »Ungebildete, hedonistisch disponierte junge Männer der Unterklasse«. Seitdem ist es damit nicht besser geworden. Unter Angela Merkel hat sich die Partei darauf verlegt, gleichzeitig das Sicherheitsbedürfnis der Kleinbürger zu bedienen und die Kapitalinteressen von Banken und Industrie. Sie hat die bürgerliche Mitte vernachlässigt. Drei Wurzeln nährten nach dem Krieg die Union: das Konservative, das Liberale und das Soziale. Angela Merkel ließ die konservative und die soziale Wurzel verkümmern. In Wahrheit fand unter ihrer Führung eine Entbürgerlichung der CDU statt.
Friedrich Engels prägte 1848 den paradoxen Begriff der »konservativen Revolution«. Eine solche hat stattgefunden. Die Grünen waren die Revolutionäre. Sie haben, wie der Soziologe Heinz Bude formulierte, einen Konservatismus ohne Ressentiments erfunden.
Für die Grünen gibt es die neue Beliebtheit allerdings nicht kostenlos. Sie müssen sich auf einiges gefasst machen. Als bürgerliche Volkspartei werden die Grünen einen entsprechend weiten Bogen zu spannen haben. Sie müssen den Bürger in seiner ganzen Widersprüchlichkeit vertreten: Einerseits will er die Energiewende, andererseits aber nicht in seinem Vorgarten. Aber es gibt keine andere Partei, die bessere Chancen hat, sich erfolgreich dieser bürgerlichen Dialektik zu stellen, als die Grünen. Keiner fällt es leichter, die Einsicht zu verstehen, die man aus dem Protest gegen Stuttgart 21 ziehen musste: Die Politik muss in Deutschland ein neues Verhältnis zum Bürger finden. Verfahrenslegitimität bringt offenbar nicht mehr automatisch politische Legitimation mit sich.
Nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 hat Heiner Geißler gesagt: »Der sogenannte Wutbürger entpuppte sich in Wirklichkeit als der moderne Aufklärer. Durch Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit machten sich diese Menschen fähig zum selbständigen Denken und der Bildung eines eigenen Urteils, unabhängig von Behörden und formalen Parlamentsentscheidungen.«
Damit ist die deutsche politische Kultur noch weit von der französischen entfernt. Aber sie hat Fortschritte gemacht.
12 AKTION
Die Deutschen lieben den Protest nicht. Feste Wurzeln halten den Untertan an seinem Platz. Angst, Pflicht, Vernunft – der Gehorsam kommt in mannigfacher Verkleidung daher. Aber am Ende ist es immer der Gehorsam, durch den der Deutsche sich auszeichnet. Wer nach den Wurzeln dieses Gehorsams graben will, der kann zum Beispiel Schillers »Glocke« lesen. Der Text wird heute an den Schulen nicht mehr auswendig gelernt. Zum Glück. Das Gedicht ist endlos lang und das Versmaß mühsam. Aber es ist vielsagend:
Der Meister kann die Form zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit,
Doch wehe, wenn in Flammenbächen
Das glühnde Erz sich selbst befreit!
Blindwütend mit des Donners Krachen
Zersprengt es das geborstne Haus,
Und wie aus offnem Höllenrachen
Speit es Verderben zündend aus;
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten,
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn. 18
In diesen Zeilen spiegelt sich das deutsche Verhältnis zur Freiheit: Nur der »Meister« darf die herrschenden Verhältnisse anrühren, »mit weiser Hand, zur rechten Zeit«, das ist der zulässige Weg der Reform. Aber wehe, die Leute nehmen ihr Schicksal selber in die Hand! Dann haben wir Revolution, wie in Frankreich, und die Tore der Hölle werden geöffnet. Bei Schiller ziehen »Würgerbanden« umher, die Weiber werden zu Hyänen »und treiben mit Entsetzen Scherz« – hier lassen schon die berüchtigten »Flintenweiber« der Freikorpsliteratur grüßen. Denn nur der sittlich entgrenzte Pöbel kann ja auf die Idee kommen, die Frauen zu bewaffnen.
Wann gab es in Deutschland den letzten großen Protest? Das letzte
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