SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
etwas zu gewinnen hat, hatte erkannt, dass der Stuttgarter Protest typisch war für eine neue Form bürgerlichen Engagements in Deutschland. Ziviler Ungehorsam, wenn auch in einer ziemlich deutschen Variante, aber immerhin. Es fehlte diesem Protest jeder sozialutopische Horizont. Es ging weder um den Frieden noch um die Gerechtigkeit. Es waren Bürger, die gegen den Staat auf die Straße gingen. Was ist ein CDU-Wähler, der demonstriert? Ein politisches Oxymoron. Es gab so etwas bisher nicht. In Stuttgart ging es gegen einen Bahnhof. In Hamburg gegen eine Schulreform. In Berlin gegen Flugrouten. Und überall ging es gegen die Politik. »Elitäre politische und ökonomische Entscheidungen«, schrieb Geißler, die Leute hatten es einfach satt. Und die Politik hatte es nicht mitbekommen. Ein Prozess der Entfremdung und Entfernung, für den es Anzeichen auch im Verhältnis der Medien zu ihrem Publikum schon gegeben hat. Der Bürger, Staatsbürger, Besitzbürger, das spielt hier zunächst gar keine Rolle, misstraut dem System. Das ist neu. »Atomproteste und alternative Lebensstile sind aus der Öko-Nische herausgetreten, die APO 2.0 ist mehrheitsfähig geworden«, schrieb der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Und der Soziologe Oliver Nachtwey sprach gar von einem »Zeichen eines angestauten Unbehagens und einer tiefen Entfremdung – nicht nur von der repräsentativen Demokratie, sondern vom gesamten Projekt der liberalen Moderne«.
Es passte zu diesem neuen bürgerlichen Protest, dass es nur eine einzige Partei gab, die ihn einigermaßen glaubwürdig vertreten konnte, und nur eine, die davon profitierte: die Grünen. Denn die Mehrheitsfähigkeit von »APO 2.0« bedeutet eben auch, dass es nicht mehr linke, systemverändernde Kräfte sind, die den gesellschaftlichen Widerstand bündeln, sondern die neue bürgerliche Volkspartei der Grünen.
Denn die Grünen sind ja in den vergangenen Jahren vollends zum freundlicheren Gesicht des deutschen Bürgertums geworden. Die Partei hat damit zu sich selbst gefunden. In der politischen Repräsentation bürgerlicher Lebenswelten findet in Deutschland schon seit geraumer Zeit in Wahrheit eine Arbeitsteilung statt: Die Grünen sind für die Moderne zuständig, die CDU für das Ressentiment. Darum konnten die Grünen in Stuttgart gewinnen. Und darum führt die Union ihren Wahlkampf im Zweifel immer noch auf dem Rücken von Asylbewerbern.
Als Ende Oktober 2012 der Winter nach Berlin kam, konnte man das erleben, direkt am Brandenburger Tor. Da nahm die Polizei den Asylbewerbern, die dort schon tagelang ausgeharrt hatten, die Decken weg. Es hieß, der »Einsatz von Übernachtungsutensilien« verstoße gegen geltendes Recht. So ging eine CDU-geführte Behörde gegen die Ärmsten der Armen vor. Das passte. Denn einige Wochen zuvor hatte Merkels Innenminister Friedrich den Kampf gegen angeblichen Asylmissbrauch für sich entdeckt. Er wollte Sinti und Roma daran hindern, nach Deutschland zu flüchten. Das erinnerte daran, dass trotz allen Geredes von der »modernisierten Union« CDU und CSU immer noch jederzeit das ausländerfeindliche Ressentiment mobilisieren können, wenn es sinnvoll erscheint.
Für das fröhliche Bürgertum sind inzwischen die Grünen zuständig. Nachdem er in Stuttgart die Wahl zum Oberbürgermeister gewonnen hatte, sagte Fritz Kuhn: »Unser Denken hat sich in Herz und Verstand großer Teile des Bürgertums breitgemacht und ist dort schon hegemonial.« Es ist der Teil des Bürgertums, der auf Familie setzt, auf Alltagsmoral, auf ein modernes bürgerliches Selbstverständnis.
Die Grüne Claudia Roth musste gar nicht übertreiben, als sie einmal sagte: »Zur Union fällt mir Mappus ein, fallen mir Plagiate ein, fällt mir die Art und Weise ein, wie sie mit Griechenland in der Eurokrise umgehen. Das ist alles andere als bürgerlich und anständig.« Das ist das Problem der Union: Von den Plagiatoren Guttenberg und Schavan über den Schnäppchenjäger Wulff bis zum Innenminister Friedrich, der seinen Wahlkampf auf dem Rücken von Sinti und Roma führen will, hat die Union vergessen, was sich gehört. Ausgerechnet Sinti und Roma: Im Oktober war ein Mahnmal eingeweiht worden, um an die deutschen Verbrechen an diesen Volksgruppen zu erinnern. Angela Merkel hatte versprochen, dass Deutschland sich für die Rechte der Sinti und Roma einsetzen werde. Die Kanzlerin hatte wörtlich gesagt: »Es ist eine deutsche und eine europäische Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, wo
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