Saemtliche Dramen
erfährt nichts. An Versammlungen teilnehmen, die Lage besprechen und dann den Befehl zur Hinrichtung geben, das fällt leicht. Sicher, man setzt sein Leben aufs Spiel, aber nicht sehenden Auges. Doch aufrecht dastehen, während sich der Abend über die Stadt senkt, inmitten der Menge derer, die sich beeilen, damit sie zu ihrer heißen Suppe nach Hause kommen, zu ihren Kindern, zur Wärme einer Frau; aufrecht und schweigend dastehen, das Gewicht der Bombe in der Hand, und wissen, dass man sich in drei Minuten, in zwei Minuten, in ein paar Augenblicken einer funkelnden Kutsche in den Weg stellen wird, das ist Terror. Und ich weiß jetzt, wenn ich das noch einmal versuche, dann werde ich ohnmächtig. Ja, ich schäme mich. Ich habe mir zu viel vorgenommen. Ich muss an meinem Platz arbeiten. An einem ganz bescheidenen Platz. Mehr habe ich nicht verdient.
ANNENKOW
Es gibt keinen ganz bescheidenen Platz. Am Ende warten immer Gefängnis und Galgen.
WOINOW
Aber man sieht sie nicht so vor sich wie denjenigen, den man gleich töten wird. Man muss sie sich vorstellen. Zum Glück habe ich keine Phantasie. (Lacht nervös) Ich habe nie ganz glauben können, dass es die Geheimpolizei wirklich gibt. Seltsam, für einen Terroristen, was? Beim ersten Fußtritt in den Bauch werde ich es glauben. Vorher nicht.
ANNENKOW
Und wenn du im Gefängnis bist? Im Gefängnis sieht man und weiß man. Dort gibt es kein Vergessen.
WOINOW
Im Gefängnis muss man keine Entscheidungen treffen. Ja, das ist es: Keine Entscheidungen mehr treffen! Sich nicht mehr sagen müssen: «Los, jetzt ist es so weit, du ganz allein musst entscheiden, in welcher Sekunde du losrennst.» Ich weiß jetzt genau, falls ich verhaftet werde, ich würde nicht versuchen zu fliehen. Zum Fliehen braucht man auch wieder Phantasie, und Tatkraft dazu. Wenn man nicht flieht, liegt das Handeln bei der Tatkraft der anderen. Die haben dann alle Arbeit.
ANNENKOW
Manchmal besteht ihre Arbeit darin, einen aufzuhängen.
WOINOW (verzweifelt)
Manchmal. Aber es wird mir weniger schwerfallen, zu sterben, als mein Leben und das eines anderen in der Hand zu halten, buchstäblich, und entscheiden zu müssen, in welchem Augenblick ich diese beiden Leben ins Feuer werfe. Nein, Borja, Frieden mit mir selbst kann ich nur finden, wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin.
( ANNENKOW schweigt.)
Sogar ein Feigling kann der Revolution dienen, wenn man ihm den angemessenen Platz zuweist.
ANNENKOW
Nun, dann sind wir alle Feiglinge. Nur haben wir nicht immer Gelegenheit, das festzustellen. Du sollst tun dürfen, was du willst.
WOINOW
Dann gehe ich am liebsten sofort. Ich glaube, ich könnte ihnen nicht ins Gesicht sehen. Aber du wirst es ihnen erklären.
ANNENKOW
Ich werde es ihnen erklären.
(Er geht auf WOINOW zu.)
WOINOW
Sag Janek, dass es nicht seine Schuld ist. Und dass ich ihn liebe, dass ich euch alle liebe.
(Pause.)
ANNENKOW (umarmt ihn)
Leb wohl, Bruder. Alles wird gut ausgehen. Russland wird glücklich sein!
WOINOW (geht fluchtartig)
Oh ja. Es möge glücklich werden! Glücklich!
ANNENKOW (geht zur Tür)
Kommt.
(Alle kommen herein, auch DORA .)
STEPAN
Was gibt es?
ANNENKOW
Woinow wird die Bombe nicht werfen. Er ist erschöpft. Es wäre zu unsicher.
KALJAJEW
Es ist meine Schuld, nicht wahr, Borja?
ANNENKOW
Ich soll dir sagen, dass er dich liebt.
KALJAJEW
Werden wir ihn wiedersehen?
ANNENKOW
Vielleicht. Erst einmal verlässt er uns.
STEPAN
Warum?
ANNENKOW
In den Komitees wird er nützlichere Arbeit leisten.
STEPAN
Hat er darum gebeten? Er hat also Angst?
ANNENKOW
Nein. Es war alles meine Entscheidung.
STEPAN
Eine Stunde vor dem Attentat nimmst du uns einen Mann weg?
ANNENKOW
Eine Stunde vor dem Attentat musste ich allein entscheiden. Für Diskussionen ist es zu spät. Ich werde Woinows Platz einnehmen.
STEPAN
Er steht mir zu!
KALJAJEW (zu ANNENKOW )
Du bist unser Anführer. Deine Pflicht ist, hierzubleiben.
ANNENKOW
Ein Anführer hat manchmal die Pflicht, feige zu sein. Aber nur, wenn er bei Gelegenheit seinen Mut beweist. Meine Entscheidung steht fest. Stepan, du wirst mich vertreten, solange wie nötig. Komm, ich mache dich mit den Instruktionen vertraut.
(Sie gehen ab. KALJAJEW setzt sich hin.)
DORA (geht zu KALJAJEW und will ihm die Hand reichen, besinnt sich dann jedoch anders)
Es ist nicht deine Schuld.
KALJAJEW
Ich habe ihm weh getan, sehr weh getan. Weißt du, was er neulich zu mir gesagt hat?
DORA
Er hat immer wieder gesagt,
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