Saemtliche Dramen
Hände.
ANNENKOW
Dora?
DORA (heftig)
Ich wäre zurückgeschreckt, wie Janek. Kann ich von anderen verlangen, was ich selber nicht tun könnte?
STEPAN
Ist euch eigentlich klar, was diese Entscheidung bedeutet? Zwei Monate Beschattung, größte Gefahren, denen wir uns ausgesetzt haben, denen wir entgangen sind, zwei für immer vergeudete Monate. Igor umsonst verhaftet. Rykow gehängt, umsonst. Und jetzt von vorn anfangen? Wochenlang wachen und Strategien entwerfen, unablässig unter Hochspannung, bevor die nächste günstige Gelegenheit kommt? Seid ihr wahnsinnig?
ANNENKOW
In zwei Tagen fährt der Großfürst wieder ins Theater, das weißt du doch.
STEPAN
Zwei Tage in der dauernden Gefahr, dass wir gefangen werden, so waren deine eigenen Worte.
KALJAJEW
Ich gehe.
DORA
Warte! (Zu STEPAN ) Stepan, könntest du offenen Auges aus nächster Nähe auf ein Kind schießen?
STEPAN
Ich könnte es, wenn die Organisation es befiehlt.
DORA
Warum machst du die Augen zu?
STEPAN
Ich? Ich habe die Augen zugemacht?
DORA
Ja.
STEPAN
Ich wollte mich besser in die Situation hineinversetzen, damit ich weiß, wovon ich rede.
DORA
Dann öffne deine Augen und mach dir klar, dass die Organisation ihre Macht und ihren Einfluss verlieren würde, wenn sie auch nur für einen einzigen Moment zuließe, dass von unseren Bomben Kinder zerrissen würden.
STEPAN
Ich bin nicht sentimental genug für diese Lappalien. Erst an dem Tag, wenn wir beschließen, auf Kinder keine Rücksicht zu nehmen, erst an dem Tag sind wir die Herren der Welt, und die Revolution wird triumphieren.
DORA
An diesem Tag wird die gesamte Menschheit die Revolution hassen.
STEPAN
Was macht das schon, solange wir sie genügend lieben, um sie der Menschheit aufzuzwingen, denn so befreien wir die Menschheit von sich selbst und aus der Sklaverei.
DORA
Und wenn die gesamte Menschheit die Revolution ablehnt? Wenn das gesamte Volk, für das du kämpfst, sich dagegen wehrt, dass seine Kinder getötet werden? Willst du dann auch das Volk bekämpfen?
STEPAN
Ja, wenn nötig, und zwar bis es begreift. Auch ich liebe das Volk.
DORA
Liebe hat ein anderes Gesicht.
STEPAN
Wer sagt das?
DORA
Ich, Dora.
STEPAN
Du bist eine Frau und hast eine verzerrte Vorstellung von der Liebe.
DORA (heftig)
Aber ich habe eine sehr genaue Vorstellung von der Schande.
STEPAN
Ich habe mich meiner selbst geschämt, ein einziges Mal, und es war die Schuld anderer. Als man mich auspeitschte. Ich bin nämlich ausgepeitscht worden. Wisst ihr, was das bedeutet, die Peitsche? Vera war bei mir, sie nahm sich das Leben, aus Protest. Und ich habe weitergelebt. Wofür sollte ich mich jetzt noch schämen?
ANNENKOW
Stepan, wir alle lieben und respektieren dich. Aber was auch immer deine Gründe sein mögen, ich kann nicht zulassen, dass du behauptest, alles sei erlaubt. Hunderte unserer Brüder sind gestorben, um zu bezeugen, dass eben nicht alles erlaubt ist.
STEPAN
Nichts ist verboten, das unserer Sache dienen könnte.
ANNENKOW (zornig)
Ist es erlaubt, sich bei der Polizei einzuschleusen und ein doppeltes Spiel zu spielen, wie Jewno es vorschlug? Würdest du das tun?
STEPAN
Ja, wenn nötig.
ANNENKOW (steht auf)
Stepan, wir werden vergessen, was du eben gesagt hast, denn wir wissen, was du für uns und mit uns getan hast. Nur eines ist jetzt wichtig. Wir müssen entscheiden, ob wir in ein paar Minuten Bomben auf diese beiden Kinder werfen.
STEPAN
Kinder! Immer nur Kinder! Begreift ihr denn gar nichts? Weil Janek diese beiden nicht getötet hat, werden Hunderte russischer Kinder verhungern, Jahr um Jahr. Habt ihr schon einmal Kinder verhungern sehen? Ich schon. Durch eine Bombe zu sterben ist ein Vergnügen, verglichen mit dem Hungertod. Aber Janek hat sie nicht gesehen. Er kennt nur die beiden Schoßhündchen des Großfürsten. Seid ihr denn keine Männer? Lebt ihr nur für den Augenblick? Dann übt lieber Wohltätigkeit und heilt nur immer das Leid, das am jeweiligen Tag herrscht, dann vergesst die Revolution, die alle Leiden heilen will, heutige wie künftige.
DORA
Janek will ja den Großfürsten töten, weil sein Tod die Zeit herbeibringen kann, in der keine russischen Kinder mehr verhungern. Aber wenn wir den Neffen des Großfürsten töten, rettet das kein einziges Kind vor dem Verhungern. Selbst in der Vernichtung gibt es Unterschiede und Grenzen.
STEPAN (heftig)
Keine Grenzen! Die Wahrheit ist, dass ihr nicht an die Revolution glaubt.
(Alle stehen auf, außer
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