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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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an, trotz der sterbenden Kinder, trotz derer, die man hängt oder zu Tode peitscht …
    KALJAJEW
    Sei still, Dora.
    DORA
    Nein, wenigstens einmal muss man sein Herz sprechen lassen. Ich warte darauf, dass du mich rufst, mich, Dora, rufe mich über diese Welt hinweg, die von Ungerechtigkeit verseucht ist …
    KALJAJEW (schroff)
    Sei still. Mein Herz spricht nur von dir. Aber gleich nachher darf ich nicht zittern.
    DORA (verstört)
    Nachher? Ach ja, ich hatte vergessen … (Lacht, als würde sie weinen) Nein, das ist sehr gut, Liebster. Sei mir nicht böse, ich war unvernünftig. Das ist die Müdigkeit. Ich hätte es auch nicht aussprechen können. Ich liebe dich mit derselben etwas starren Liebe, in der Gerechtigkeit und im Gefängnis. Weißt du noch, Janek, im Sommer? Aber nein, jetzt ist ja ewiger Winter. Wir sind nicht mehr von dieser Welt, wir sind Gerechte. Es gibt eine Wärme, die ist nicht für uns. (Wendet sich ab) Ah! Mitleid für die Gerechten!
    KALJAJEW (schaut sie verzweifelt an)
    Ja, das ist unser Los, die Liebe ist unmöglich. Aber ich werde den Großfürsten töten, und dann gibt es Frieden, für dich und für mich auch.
    DORA
    Frieden! Wann werden wir den finden?
    KALJAJEW (heftig)
    Morgen.
    ( ANNENKOW und STEPAN kommen herein. DORA und KALJAJEW entfernen sich voneinander.)
    ANNENKOW
    Janek!
    KALJAJEW
    Sofort. (Atmet tief durch) Endlich, endlich …
    STEPAN
    Lebe wohl, Bruder, ich bin bei dir.
    KALJAJEW
    Lebe wohl, Stepan. (Dreht sich zu Dora) Lebe wohl, Dora.
    DORA (geht zu ihm. Sie stehen sehr nah voreinander, berühren sich aber nicht.)
    Nein, nicht lebe wohl. Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, mein Liebster. Wir werden wieder beieinander sein.
    KALJAJEW (schaut sie an. Pause.)
    Auf Wiedersehen. Ich … Russland wird schön sein.
    DORA (weinend)
    Russland wird schön sein.
    ( KALJAJEW bekreuzigt sich vor der Ikone. ANNENKOW und er gehen ab.)
    STEPAN (geht zum Fenster. DORA rührt sich nicht, schaut immer noch zur Tür.)
    Wie aufrecht er geht. Weißt du, ich hatte unrecht, dass ich Janek nicht vertraut habe. Ich konnte seine Begeisterung nicht leiden. Er hat sich bekreuzigt, hast du das gesehen? Ist er gläubig?
    DORA
    Kirchgänger ist er nicht.
    STEPAN
    Aber eine fromme Seele. Das trennt uns. Ich bin unversöhnlicher als er, ich weiß schon. Wir, die wir nicht an Gott glauben, brauchen die ganze Gerechtigkeit, sonst müssen wir verzweifeln.
    DORA
    Für ihn ist sogar die Gerechtigkeit ein Grund zur Verzweiflung.
    STEPAN
    Ja, eine schwache Seele. Aber seine Hand ist stark. Er ist besser als seine Seele. Er wird ihn töten, da bin ich sicher. Das ist gut, sehr gut sogar. Zerstören, darauf kommt es an. Du sagst ja gar nichts? (Mustert sie) Liebst du ihn?
    DORA
    Zum Lieben braucht man Zeit. Wir haben kaum Zeit genug für die Gerechtigkeit.
    STEPAN
    Du hast recht. Es gibt zu viel zu tun; wir müssen diese Welt zerschlagen, kein Stein darf auf dem anderen bleiben … Und dann …
    (Am Fenster) Ich kann sie nicht mehr sehen, sie müssen angekommen sein.
    DORA
    Und dann …
    STEPAN
    Werden wir einander lieben.
    DORA
    Wenn wir noch da sind.
    STEPAN
    Andere werden sich lieben. Das kommt aufs Gleiche hinaus.
    DORA
    Stepan, sag einmal «Hass».
    STEPAN
    Wie bitte?
    DORA
    Sprich dieses Wort aus, «Hass».
    STEPAN
    Hass.
    DORA
    Gut. Janek brachte es kaum über die Lippen.
    STEPAN (nach einer Pause; geht zu ihr)
    Ich verstehe: Du verachtest mich. Bist du denn sicher, dass du recht hast?
    (Pause, dann mit wachsender Erregtheit) Da feilscht ihr alle um eure Handlungen, im Namen dieser nichtswürdigen Liebe. Aber ich, ich liebe nichts, sondern ich hasse, ja, ich hasse meinesgleichen. Was habe ich mit eurer Liebe zu schaffen? Ich habe sie in der Verbannung erfahren, vor drei Jahren. Und seit drei Jahren schleppe ich sie mit mir herum. Du willst, dass ich weich werde und die Bombe trage wie ein Kreuz? Nein! Nein! Ich habe zu viel erlebt, ich weiß zu vieles … Schau her … (Er zerreißt sein Hemd. Dora macht eine Bewegung auf ihn zu, schreckt aber vor den Narben der Peitschenhiebe zurück.) Das sind die Spuren! Die Spuren der Liebe dieser Menschen! Verachtest du mich noch immer?
    DORA (geht zum ihm und umarmt ihn unvermittelt)
    Wer könnte den Schmerz verachten? Ich liebe auch dich.
    STEPAN (schaut sie an, dumpf)
    Verzeih mir, Dora.
    (Pause. STEPAN wendet sich ab.)
    Es ist vielleicht die Erschöpfung. Der jahrelange Kampf, die Angst, die Spitzel, die Verbannung … und vor allem das hier.
    (Deutet auf die

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