Saemtliche Dramen
Narben) Woher soll ich die Kraft zum Lieben nehmen? Immerhin habe ich genug Kraft zum Hassen. Besser das als gar nichts spüren.
DORA
Ja, das ist besser.
STEPAN (schaut sie an. Es läutet sieben Uhr. STEPAN dreht sich jäh um.)
Gleich kommt der Großfürst.
( DORA geht zum Fenster und presst das Gesicht an die Scheibe. Lange Pause. Dann, fern, die Kutsche. Sie kommt näher, fährt vorüber.)
Wenn er allein ist …
(Die Kutsche entfernt sich. Eine furchtbare Explosion. DORA zuckt zusammen, verbirgt den Kopf in den Händen. Lange Pause.)
Borja hat seine Bombe nicht geworfen! Janek hat es geschafft! Geschafft! Oh Volk! Oh Freude!
DORA (wirft sich ihm weinend entgegen)
Wir haben ihn getötet! Wir waren es! Ich!
STEPAN (schreit)
Wen haben wir getötet? Janek?
DORA
Den Großfürsten.
Vorhang
4 . Akt
(Eine Zelle im Pugatschow-Turm des Butyrki-Gefängnisses. Morgen. Beim Aufgehen des Vorhangs steht KALJAJEW in seiner Zelle und schaut zur Tur. Der WÄRTER und FOKA , ein Gefangener, der einen Eimer trägt, treten ein.)
DER WÄRTER
Mach sauber. Aber schnell. (Er geht zum Fenster. FOKA beginnt sauber zu machen, ohne KALJAJEW anzusehen. Pause.)
KALJAJEW
Wie heißt du, Bruder?
FOKA
Foka.
KALJAJEW
Bist du ein Sträfling?
FOKA
Sieht so aus.
KALJAJEW
Was hast du getan?
FOKA
Getötet.
KALJAJEW
Aus Hunger?
DER WÄRTER
Nicht so laut.
KALJAJEW
Wie bitte?
DER WÄRTER
Nicht so laut. Ich lasse euch reden, obwohl es verboten ist. Also sprich nicht so laut. Wie der Alte.
KALJAJEW
Aus Hunger?
FOKA
Nein, aus Durst.
KALJAJEW
Und?
FOKA
Und dann war da ein Beil. Ich habe alles kurz und klein geschlagen. Sie sagen, ich habe drei umgebracht.
( KALJAJEW schaut ihn an.)
Na, Euer Gnaden, nennst du mich nicht mehr Bruder? Abgekühlt, was?
KALJAJEW
Ich habe auch getötet.
FOKA
Wie viele?
KALJAJEW
Das kann ich dir sagen, wenn du willst, Bruder. Aber sag mir erst, du bereust, was du getan hast, oder?
FOKA
Natürlich, zwanzig Jahre sind ganz schön saftig. Da kann man bereuen.
KALJAJEW
Zwanzig Jahre. Ich bin dreiundzwanzig, und nach zwanzig Jahren hätte ich graue Haare.
FOKA
Oh! Vielleicht hast du ja Glück. So ein Richter hat auch seine guten und seine schlechten Tage. Kommt darauf an, ob er verheiratet ist, und mit wem. Außerdem bist du ein Herr. Da kriegst du einen anderen Tarif als wir armen Teufel. Du wirst schon davonkommen.
KALJAJEW
Ich glaube nicht. Und ich will es nicht. Ich könnte nicht zwanzig Jahre lang die Schande ertragen.
FOKA
Schande? Was für eine Schande? Was soll’s, das sind so Feine-Leute-Ideen. Wie viele hast du umgebracht?
KALJAJEW
Einen Einzigen.
FOKA
Was? Das ist ja gar nichts.
KALJAJEW
Ich habe den Großfürsten Sergej getötet.
FOKA
Den Großfürsten? Meine Herren. Ich sag’s ja, feine Leute! Das ist ziemlich schlimm, was?
KALJAJEW
Ja. Aber es musste sein.
FOKA
Warum? Hast du bei Hof gelebt? Frauengeschichten, was? Bei deinem hübschen Gesicht …
KALJAJEW
Ich bin Sozialist.
DER WÄRTER
Nicht so laut.
KALJAJEW (lauter)
Ich bin Sozialrevolutionär.
FOKA
Geschichten sind das. Und warum musstest du so ein … Dingsda sein? Wärst du schön ruhig geblieben, dann wär nichts passiert. Die Erde ist doch für die feinen Herren da.
KALJAJEW
Nein, für dich ist sie da. Es gibt zu viel Elend und zu viele Verbrechen. Wenn es irgendwann weniger Elend gibt, werden auch die Verbrechen weniger. Wäre die Erde frei, dann wärst du nicht hier.
FOKA
Ja und nein. Egal, frei oder nicht, es ist nie gut, wenn man einen über den Durst trinkt.
KALJAJEW
Nein, das ist nie gut. Aber man trinkt, weil man gedemütigt wird. Eine Zeit wird kommen, wo man nicht mehr zu trinken braucht, weil sich niemand mehr schämen muss, weder feiner Herr noch armer Teufel. Wir werden alle Brüder sein, und die Gerechtigkeit wird unsere Herzen klar und rein machen. Weißt du, wovon ich spreche?
FOKA
Ja, vom Königreich Gottes.
DER WÄRTER
Nicht so laut.
KALJAJEW
Das solltest du nicht sagen, Bruder. Gott vermag gar nichts. Die Gerechtigkeit ist unsere Sache!
(Pause.)
Du verstehst nicht? Kennst du die Legende vom heiligen Dmitri?
FOKA
Nein.
KALJAJEW
Er hatte eine Verabredung mit Gott in der Steppe, und als er dorthin eilte, traf er einen Bauern, dessen Karren im Schlamm festgefahren war. Da half der heilige Dmitri ihm. Der Schlamm war zäh, das Loch tief. Die Schufterei dauerte eine geschlagene Stunde. Als es endlich geschafft war, lief der heilige Dmitri zum
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