Sämtliche Werke
können! Nur flüchtige Bemerkungen wage ich hier hinzuwerfen, die ein geneigtes Kopfnicken von Ihnen erschmeicheln sollen.
So, hoffe ich, findet Ihre Beistimmung, was ich im vorigen Briefe über das französische Lustspiel angedeutet habe. Das sittliche Verhältnis oder vielmehr Mißverhältnis zwischen Mann und Weib ist hier in Frankreich der Dünger, welcher den Boden des Lustspiels so kostbar befruchtet. Die Ehe, oder vielmehr der Ehebruch, ist der Mittelpunkt aller jener Lustspielraketen, die so brillant in die Höhe schießen, aber eine melancholische Dunkelheit, wo nicht gar einen üblen Duft, zurücklassen. Die alte Religion, das katholische Christentum, welche die Ehe sanktionierte und den ungetreuen Gatten mit der Hölle bedrohte, ist hier mitsamt dieser Hölle erloschen. Die Moral, die nichts anders ist als die in die Sitten eingewachsene Religion, hat dadurch alle ihre Lebenswurzeln verloren und rankt jetzt mißmutig welk an den dürren Stäben der Vernunft, die man an die Stelle der Religion aufgepflanzt hat. Aber nicht einmal diese armselig wurzellose, nur auf Vernunft gestützte Moral wird hier gehörig respektiert, und die Gesellschaft huldigt nur der Konvenienz, welche nichts anderes ist als der Schein der Moral, die Verpflichtung einer sorgfältigen Vermeidung alles dessen, was einen öffentlichen Skandal hervorbringen kann; ich sage, einen öffentlichen, nicht einen heimlichen Skandal, denn alles Skandalöse, was nicht zur Erscheinung kommt, existiert nicht für die Gesellschaft; sie bestraft die Sünde nur in Fällen, wo die Zungen allzu laut murmeln. Und selbst dann gibt es gnädige Milderungen. Die Sünderin wird nicht früher ganz verdammt, als bis der Ehegatte selbst sein »Schuldig« ausspricht. Der verrufensten Messaline öffnen sich die Flügeltore des französischen Salons, solange das eheliche Hornvieh geduldig an ihrer Seite hineintrabt. Dagegen das Mädchen, das sich wahnsinnig großmütig, weiblich aufopferungsvoll in die Arme des Geliebten wirft, ist auf immer aus der Gesellschaft verbannt. Aber dieses geschieht selten, erstens, weil Mädchen hierzulande nie lieben, und zweitens, weil sie im Liebesfalle sich so bald als möglich zu verheiraten suchen, um jener Freiheit teilhaft zu werden, die von der Sitte nur den verheirateten Frauen bewilligt ist.
Das ist es. Bei uns in Deutschland, wie auch in England und anderen germanischen Ländern, gestattet man den Mädchen die größtmöglichste Freiheit, verehelichte Frauen hingegen treten in die strengste Abhängigkeit und unter die ängstlichste Obhut ihres Gemahls. Hier in Frankreich ist, wie gesagt, das Gegenteil der Fall, junge Mädchen verharren hier so lange in klösterlicher Eingezogenheit, bis sie entweder heiraten oder unter strengster Aufsicht einer Verwandten in die Welt eingeführt werden. In der Welt, d.h. im französischen Salon, sitzen sie immer schweigend und wenig beachtet; denn es ist hier weder guter Ton noch klug, einem unverheirateten Mädchen den Hof zu machen.
Das ist es. Wir Deutsche, wie unsere germanischen Nachbarn, wir huldigen mit unserer Liebe immer nur unverheirateten Mädchen, und nur diese besingen unsere Poeten; bei den Franzosen hingegen ist nur die verheiratete Frau der Gegenstand der Liebe, im Leben wie in der Kunst.
Ich habe soeben auf eine Tatsache hingewiesen, welche einer wesentlichen Verschiedenheit der deutschen Tragödie und der französischen zum Grunde liegt. Die Heldinnen der deutschen Tragödien sind fast immer Jungfrauen, in der französischen Tragödie sind es verheiratete Weiber, und die komplizierteren Verhältnisse, die hier eintreten, eröffnen vielleicht einen freieren Spielraum für Handlung und Passion.
Es wird mir nie in den Sinn kommen, die französische Tragödie auf Kosten der deutschen, oder umgekehrt, zu preisen. Die Literatur und die Kunst jedes Landes sind bedingt von lokalen Bedürfnissen, die man bei ihrer Würdigung nicht unberücksichtigt lassen darf. Der Wert deutscher Tragödien, wie die von Goethe, Schiller, Kleist, Immermann, Grabbe, Oehlenschläger, Uhland, Grillparzer, Werner und dergleichen Großdichtern, besteht mehr in der Poesie als in der Handlung und Passion. Aber wie köstlich auch die Poesie ist, so wirkt sie doch mehr auf den einsamen Leser als auf eine große Versammlung. Was im Theater auf die Masse des Publikums am hinreißendsten wirkt, ist eben Handlung und Passion, und in diesen beiden exzellieren die französischen Trauerspieldichter. Die
Weitere Kostenlose Bücher