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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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unwissender ein Volk, desto leichter stürzt es sich in die Strömung der Tat; je wissenschaftsreicher und nachdenklicher ein Volk, desto länger sondiert es die Flut, die es mit klugen Schritten durchwatet, wenn es nicht gar zögernd davor stehenbleibt, aus Furcht vor verborgenen Untiefen oder vor der erkältenden Nässe, die einen gefährlichen Nationalschnupfen verursachen könnte. Am Ende ist auch wenig daran gelegen, daß wir solchermaßen nur langsam fortschreiten oder durch Stillstand einige hundert Jährchen verlieren, denn dem deutschen Volk gehört die Zukunft, und zwar eine sehr lange, bedeutende Zukunft. Die Franzosen handeln so schnell und handhaben die Gegenwart mit solcher Eile, weil sie vielleicht ahnen, daß für sie die Dämmerung heranbricht: hastig verrichten sie ihr Tagwerk. Aber ihre Rolle ist noch immer ziemlich schön, und die übrigen Völker sind doch nur das verehrungswürdige Publikum, das der französischen Staats- und Volkskomödie zuschaut. Dieses Publikum freilich wandelt zuweilen das Gelüste an, ein bißchen laut seinen Beifall oder Tadel auszusprechen, wo nicht gar auf die Szene zu steigen und mitzuspielen; aber die Franzosen bleiben doch immer die Hauptakteurs im großen Weltdrama, man mag ihnen Lorbeerkränze oder faule Äpfel an den Kopf werfen. »Mit Frankreich ist es aus« – mit diesen Worten läuft hier mancher deutsche Korrespondent herum und prophezeit den Untergang des heutigen Jerusalems; aber er selber fristet doch sein kümmerliches Leben durch Berichterstattung dessen, was diese so gesunkenen Franzosen täglich schaffen und tun, und seine respektiven Kommittenten, die deutschen Zeitungsredaktionen, würden ohne Berichte aus Paris keine drei Wochen lang ihre Journalspalten füllen können. Nein, Frankreich hat noch nicht geendet, aber – wie alle Völker, wie das Menschengeschlecht selbst – es ist nicht ewig, es hat vielleicht schon seine Glanzperiode überlebt, und es geht jetzt mit ihm eine Umwandlung vor, die sich nicht ableugnen läßt: auf seiner glatten Stirn lagern sich diverse Runzeln, das leichtsinnige Haupt bekommt graue Haare, senkt sich sorgenvoll und beschäftigt sich nicht mehr ausschließlich mit dem heutigen Tage – es denkt auch an morgen.
    Der Kammerbeschluß über die Fortifikation von Paris beurkundet eine solche Übergangsperiode des französischen Volksgeistes. Die Franzosen haben in der letzten Zeit sehr viel gelernt, sie verloren dadurch alle Lust des blinden Hinausstürmens in die gefährliche Fremde. Sie wollen jetzt sich selber zu Hause verschanzen gegen die eventuellen Angriffe der Nachbarn. Auf dem Grabe des kaiserlichen Adlers ist ihnen der Gedanke gekommen, daß der bürgerkönigliche Hahn nicht unsterblich sei. Frankreich lebt nicht mehr in dem kecken Rausche seiner unüberwindlichen Obmacht: es ward ernüchtert durch das aschermittwochliche Bewußtsein seiner Besiegbarkeit, und ach, wer an den Tod denkt, ist schon halb gestorben! Die Befestigungswerke von Paris sind vielleicht der Riesensarg, den der Riese sich selber dekretierte, in trüber Ahnung. Es mag jedoch noch eine gute Weile dauern, ehe seine Sterbestunde schlägt, und manchem Nichtriesen dürfte er zuvor die tödlichsten Hiebe versetzen. Jedenfalls wird er einst durch die klirrende Wucht seines Hinsinkens den Erdboden schüttern machen, und noch furchtbarer als im Leben wird er durch seine postumen Werke, als nachtwandelndes Gespenst, seine Feinde ängstigen. Ich bin überzeugt, im Fall man Paris zerstörte, würden seine Bewohner, wie einst die Juden, sich in die ganze Welt zerstreuen und dadurch noch erfolgreicher die Saat der gesellschaftlichen Umwandlung verbreiten.
    Die Befestigung von Paris ist das wichtigste Ereignis unserer Zeit, und die Männer, die in der Deputiertenkammer dafür oder dagegen stimmten, haben auf die Zukunft den größten Einfluß geübt. An diese enceinte continue, an diese forts détachés knüpft sich jetzt das Schicksal des französischen Volks. Werden diese Bauten vor dem Gewitter schützen, oder werden sie die Blitze noch verderblicher anziehen? Werden sie der Freiheit oder der Knechtschaft Vorschub leisten? Werden sie Paris vor Überfall retten oder dem Zerstörungsrechte des Kriegs unbarmherzig bloßstellen? Ich weiß es nicht, denn ich habe weder Sitz noch Stimme im Rate der Götter. Aber soviel weiß ich, daß die Franzosen sich sehr gut schlagen würden, wenn sie einst Paris verteidigen müßten gegen eine dritte Invasion. Die zwei

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