Saemtliche Werke von Jean Paul
einerlei Wunden haben, und von denen die Zeit das nämliche Maß zum Sarge nimmt, nicht einander ohne Zögern mit dem Seufzer in die Arme: ›Ach wohl sind wir einander ähnlich und bekannt‹? – Warum müssen erst die Fleischstatuen, worein unsre Geister eingekettet sind, zusammenrücken und einander betasten, damit die darin vermummten Wesen sich einander denken und lieben? – Und doch ists so menschlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als Fleischstatuen – als das geliebte Angesicht unsern Augen – als die teuere Stimme unsern Ohren und die warme Brust der unsrigen?… Ach Emanuel! sei für mich kein Toter! Nimm mich an! Gib mir dein Herz! Ich will es lieben! – Ich bin nicht sehr glücklich, mein Emanuel! – Da mein großer Lehrer Dahore – dieser glänzende Schwan des Himmels, der, vom zerknickten Flügelgelenk ans Leben befestigt, sehnend zu andern Schwänen aufsah, wenn sie nach den wärmern Zonen des zweiten Lebens zogen – aufhörte an mich zu schreiben: so tat ers mit den Worten: ›Suche mein Ebenbild! Deine Brust wird so lange bluten, bis du mit einer andern die Narben bedeckst, und die Erde wird dich immer stärker schütteln, wenn du allein stehst – und nur um den Einsamen schleichen Gespenster.‹ – – Emanuel, bist du nicht ruhig und sanft und nachsichtig? – Sehnet sich deine Seele nicht, alle Menschen zu lieben, und ist ihr nicht ein einziges Herz zu enge, in das sie mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine eingeschlafene Tulpe eingeschlossen ist? – Hast du nicht satt das Repetierwerk unseres Freuden- und Trauergeläutes, die Familienähnlichkeit aller Abende und Zeiten? – Schauest du nicht von dieser dahingerissenen Erde hinaus auf deinen langen Weg über dir, damit dich nicht ekle und schwindle, wie man eben deswegen aus dem Wagen auf die Straße sieht? – Glaubst du nicht an Menschen, um welche die Bergluft einer höhern Stellung geht, und die oben auf ihrem Berge mitten in einem stillen Himmel stehen und herunterschauen in die Donner und Regenbogen an der Erde? – Glaubst du nicht an Gott und suchst seine Gedanken auf in den Lineamenten der Natur und seine ewige Liebe in deiner Brust? – – – Wenn du das alles bist und denkst, so bist du mein; denn du bist besser als ich, und meine Seele will sich heben an einem höhern Freund. Baum des höhern Lebens, ich umfasse dich, ich umstricke dich mit tausend Kräften und Zweigen, damit ich aufsteige aus dem zertretenen Kot um mich! – Ach von einem großen Menschen könnte ich geheilt, gestillet, erquickt, erhoben werden – ich Armer, nur an Wünschen reich – zerrüttet vom Kriege zwischen meinen Träumen und meinen Sinnen – wund hin- und hergeschlagen zwischen Systemen, Tränen und Narrheiten – anekelnd die Erde, die ich mir nicht ersetzen kann, lachend über die weinerliche Komödie bloß aus Jammer, und der widersprechendste, betrübteste und lustigste Schatten unter den Schatten in der weiten Nacht…. O! schöne, gute Seele, liebe mich!
Horion.«
Den Kopf auf die Hand gestützt, ließ er so lange seine Tränen, ohne zu denken und ohne zu sehen, rinnen, bis die Natur ein Ende machte. Dann trat er ans Klavier und sang unter dessen Begleitung die heftigsten Stellen seines Briefes ab; was ihn stark bewegte, trieb ihn allezeit zum Singen an, besonders der Affekt der Sehnsucht. Was kann es uns verschlagen, daß es Prose war?
Bei der letzten Zeile seines Briefgesanges ging langsam die Türe auf: »Du bists?« sagte eine Stimme. »Ach komm herein, Flamin!« antwortete er. »Ich wollte nur sehen, ob du zurück wärest«, sagte Flamin und ging. –
– Ich denke, es ist nötig, daß ich wenigstens folgendes dazwischenwerfe: – daß nämlich Viktor zu viel Phantasie, Laune und Besonnenheit besaß, um nicht, wenn diese drei Saiten zugleich erschüttert wurden, lauter Dissonanzen anzugeben, die bei mehr harmonischen Intervallen dieser Kräfte weggeblieben wären – daß er daher mehr Neigung zu Schwärmereien und zu Schwärmern hatte als Ansatz dazu – daß seine negativ-elektrische Philosophie mit seinem positiv-elektrischen Enthusiasmus immer um das Gleichgewicht zu kämpfen hatte – und daß aus dem Aufbrausen beider Spiritus nichts wurde als Humor – daß er alle Freuden-Nelken auf dem nämlichen Beete haben wollte, obgleich eine die Farbe der andern verfälschte (z. B. Feinheit und Enthusiasmus, Erhebung über die Welt und Ton der Welt) – daß daraus außer der Laune und höchsten Toleranz auch
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