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Saemtliche Werke von Jean Paul

Saemtliche Werke von Jean Paul

Titel: Saemtliche Werke von Jean Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Paul
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so abgeschossen vor! Leute, die wenig gereiset, schauen ihre Stube in den Augenblicken der Abreise – der Ankunft – und in den übrigen mit drei verschiedenen Gefühlen an; aber für Zugheuschrecken und Zuggeflügel sind die Kunststraßen und Residenzstraßen nur Korridore zwischen den Zimmern.
    Schon eine halbe Stunde saß er auf dem nackten Kutschenkasten voraus, mit den Beinen in Gepäck eingekeilt und in zappelnder Erwartung, wann die Pferde den ersten Riß täten. Endlich wurde die Wagentüre zugeworfen, und alles rollte dahin, den Berg hinab, den Gemeindeanger hinüber, auf welchem der weißgeschälte Baum, der zur Kirchweih sich mit gerötelter Fahne und Bänderwimpeln noch einmal in die Erde bohren sollte, unserem Gustav ganz verächtlich wurde, der jetzt in Scheerau hundert schönern Maienbäumen und Kirchweihen entgegenfuhr. – Aber als es vor der an Freuden fruchtbaren Region seines Berges vorüberging: so zog er vom Trauergerüste der gestorbnen Nachmittage, vom klingenden Vieh, das am Gipfel grasete, von einem Weideadjunktus, der ihm schlecht gefiel, vom zusammengetragenen Steinpferch, in den er sein Lämmchen gestellt, das nun ohne Band und ohne Liebe droben stand, und endlich vom Markstein, auf dem sonst seine Traute, seine Schöne strickte, davon freilich zog er die zurückgewandten Blicke sehnend langsam weg. »Ach«, dacht’ er, »wer wird dir Zitronenkuchen geben und meinem Lämmchen Brotrinden? Ich will euch aber schon alle Tage recht viel herschicken!«
    Es war ein reiner Oktobermorgen, der Nebel lag zusammengefaltet dem Himmel zu Füßen, der wegfliegende Sommer schwebte mit seinen blauen Schwingen noch hoch über den Ästen und Blumen, die ihn getragen, und schauete mit dem weiten, still erwärmenden Sonnenauge den Menschen an, von dem er Abschied nahm. Gustav wollte aus dem Wagen, um den betaueten fliegenden Sommer, der zartgesponnen wie ein Menschenleben die Erde überzog, zusammenzuwickeln und mitzunehmen. Aber du, Mensch, hängst so oft als stinkende Pest- und Nebelwolke in die reine Natur herein!
    Denn sie mochten kaum eine Stunde gefahren sein, nach der er schon jedes Dorf für Scheerau hielt…. Ich will aber erst angeben, wo’s war. Bei Issig schrie er im Wald. »O! nun dort wird der schwarze Arm hineinlangen und mich hinausziehen!« Als sich der Alte noch darüber wunderte, woher der Kleine wüßte, daß jetzt eine Armsäule komme, die wirklich aus den Bäumen herauswies: so fings auf einmal darhinter an zu schreien: »Ach meine Augen, meine Augen!« Den Kleinen und die Mutter versteinerte der Schrecken; aber der Rittmeister stürzte sich aus oder durch den Wagen, zerstieß die Gläser und prallte in den Wald hinein – und an ein kniendes feines Kind hinan, aus dessen zerschnittenen Augen Tränen und Wasser liefen. »Ach tu mir nichts, ich kann nimmer sehen!«sagt’ es und griff mit den Händchen um sich, um die Lanzette wegzuschlagen, die zu seinen Knien lag. »Wer hat dir denn das getan?« sagt’ er mit der sanftesten, vom heftigsten Mitleid brechenden Stimme; aber eh’ es sprach, kam ein altes verwüstetes Bettelweib näher und sagte, im Gebüsch wär’ ein Bettler hingeschossen, ders Kind blenden hätte wollen, um darauf zu betteln. Allein das Kind krümmte sich mit größern Konvulsionen an seine Hand und sagte: »O! sie will mich wieder schneiden.« Der Rittmeister erriet die Spitzbüberei, schlitzte den nächsten Ast herab, peitschte die Elende mit verfehlender Wut ins Angesicht und lief mit dem Blinden auf dem Arm dem furchtsamen Wagen zu. Es war ein herzerdrückender Anblick, der unschuldige Wurm mit feinen Zügen und Bewegungen in Lumpen und mit rot eingerunzelten Augen! –

Neunter Sekto r
     
    Eingeweide ohne Leib – Scheerau
    Nicht bloß Lügner und L’hombrespieler, sondern auch Romanenleser müssen ein gutes Gedächtnis haben, um die ersten 10 oder 12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen auswendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fortkommen. Bei mir steht kein Zug umsonst da; in meinem Buche und in meinem Leib hängen Stücke Milz; aber der Nutzen dieses Eingeweides wird schon noch herausgebracht. – Da ein Romanschreiber wie ein Hofmann bloß darauf hinarbeiten muß, daß er seinen Freund und Helden stürze und in geladene Gewitter führe: so bild’ ich seit einem Quartale am Himmel hie ein graues Wölkchen, das schwindet, dort eines, das zerläuft; aber wenn ich endlich alle Zellen des Horizonts unsichtbar

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