Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
erkennen aus seinem Verhalten, daß ihm dieser Name nicht gehört.«
»Wieso?« fragte der Jäger.
»Old Shatterhand kennt keine Furcht; dir aber hat die Angst den Mut benommen, dich uns zu zeigen.«
»Wäre das wahr, so besäßen die Krieger der Utahs noch mehr Angst als ich. Ich lasse mich nicht sehen, und ihr zählt viele, viele Bewaffnete; sie aber verstecken sich, und du mit ihnen, vor nur vier Männern. Wer hat da größere Furcht, ich oder ihr? Übrigens will ich dir beweisen, daß ich keine Bangigkeit kenne. Ihr sollt mich sehen.«
Er trat aus seinem Verstecke hervor, stieg auf den höchsten Punkt des Felsen, blickte langsam rundum und stand so frei und unbesorgt da oben, als ob es nicht ein einziges Gewehr gebe, dessen Kugel ihn zu treffen vermöge.
»Ing Pokai-mu, ing Pokai-mu, howgh!« erklangen mehrere laute Stimmen – »er ist die »tötende Hand«, er ist die »tötende Hand«, gewiß!«
Das waren Leute, welche ihn kannten, weil sie ihn gesehen hatten. Er blieb furchtlos stehen und rief dem Häuptlinge zu: »Hast du das Zeugnis deiner Krieger vernommen? Glaubst du nun, daß ich Old Shatterhand wirklich bin?«
»Ich glaube es. Dein Mut ist groß. Unsre Kugeln treffen viel, viel weiter als zu dir. Wie leicht kann eins unsrer Gewehre losgehen!«
»Das wird nicht geschehen, denn die Krieger der Utah sind tapfre Helden, aber keine Mörder. Und wenn ihr mich tötet, so würde mein Tod schwer an euch gerächt werden.«
»Wir fürchten keine Rache!«
»Sie würde euch ereilen und auffressen, ohne zu fragen, ob ihr euch vor ihr fürchtet. Ich habe den Wunsch des »großen Wolfes« erfüllt und mich ihm gezeigt. Warum bleibt er noch im Verborgenen? Hat er noch Angst oder hält er mich für einen Meuchelmörder, der ihn töten will?«
»Der Häuptling der Utahs hat keine Sorge. Er weiß, daß Old Shatterhand nur dann zur Waffe greift, wenn er angegriffen wird, und wird sich ihm zeigen.«
Er trat hinter dem Baume hervor, so daß seine große Gestalt vollständig zu sehen war.
»Ist Old Shatterhand nun zufrieden?« fragte er.
»Nein.«
»Was verlangt er noch?«
»Ich will mit dir in größerer Nähe sprechen, um eure Wünsche bequemer zu erfahren. Komm also näher herbei, bis zur Hälfte der jetzigen Entfernung; ich werde vom Felsen steigen und dir entgegengehen. Dann setzen wir uns, wie es würdigen Kriegern und Häuptlingen geziemt, nieder, um zu beraten.«
»Willst du nicht lieber zu uns kommen?«
»Nein; es soll der eine den andern dadurch ehren, daß sie einander gleichweit entgegenkommen.«
»Dann würde ich mit dir auf der freien Lichtung sitzen und den Schüssen deiner Leute ohne Schutz ausgesetzt sein.«
»Ich gebe dir mein Wort, daß dir nichts geschehen soll. Sie werden nur dann schießen, wenn deine Krieger mir eine Kugel senden. Dann wärest du freilich verloren.«
»Wenn Old Shatterhand sein Wort gibt, so darf man vertrauen; es gilt ihm ebenso heilig wie der größte Schwur. Ich werde also kommen. Wie wird der große weiße Jäger bewaffnet sein?«
»Ich werde alle meine Waffen ablegen und hier zurücklassen; dir aber steht es frei, zu thun, was dir beliebt.«
»Der »große Wolf« wird sich nicht dadurch schänden, daß er weniger Mut und Vertrauen zeigt. Komm also herab!«
Der Häuptling legte seine Waffen da, wo er stand, in das Gras und wartete dann auf Old Shatterhand.
»Sie wagen zu viel,« wurde dieser von Jemmy gewarnt. »Sind Sie wirklich der Überzeugung, daß Sie es thun dürfen?«
»Ja. Wenn der Häuptling vorher zurückgetreten wäre, um sich mit seinen Leuten zu beraten oder ihnen einen Befehl, einen Wink zu geben, so würde ich freilich Verdacht schöpfen. Da er das aber nicht gethan hat, so muß ich ihm Vertrauen schenken.«
»Und was sollen wir inzwischen thun?«
»Nichts. Ihr legt, doch ohne daß man es unten bemerkt, die Gewehre auf ihn an und schießt ihn sofort nieder, falls ich angegriffen werden sollte.«
Er stieg hinab und dann schritten die beiden langsam aufeinander zu. Als sie sich erreichten, hielt Old Shatterhand dem Häuptling die Hand hin und sagte: »Ich habe den »großen Wolf« noch nie gesehen, aber oft gehört, daß er in der Beratung der Weiseste und im Kampfe der Tapferste sei. Ich freue mich also jetzt, sein Angesicht zu sehen und ihn als Freund begrüßen zu können.«
Der Indianer ignorierte die Hand des Weißen, musterte mit scharfem Blicke die Gestalt und das Gesicht desselben, und antwortete, indem er nieder zur Erde deutete:
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