Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
im Laube, so daß selbst der scharfäugigste Indianer sie nicht hätte bemerken können.
Die Gefangenen hatten laufen müssen; also waren sie an den Füßen nicht gefesselt. Sie wurden an das Feuer geführt, wo sich die Häuptlinge, der »große Wolf« natürlich bei ihnen, wieder niedergelassen hatten. Dieser Indianer hatte die im Gürtel verborgenen Adlerfedern hervorgeholt und wieder in den Schopf gesteckt. Er war Sieger und durfte also sein Abzeichen wieder tragen. Sein Auge ruhte mit dem Ausdrucke eines hungrigen Panthers auf den Weißen, doch sagte er jetzt noch nichts, da der älteste Häuptling das Recht besaß, zuerst das Wort zu ergreifen.
Der Blick Nanap neavs, des Alten, flog von einem Weißen zum andern, bis er zuletzt an Winnetou halten blieb.
»Wer bist du?« fragte er ihn. »Hast du einen Namen, und wie heißt der räudige Hund, den du deinen Vater nennst?«
Jedenfalls hatte er erwartet, daß der stolze Apache ihm gar nicht antworten werde; aber Winnetou sagte in ruhigem Tone: »Wer mich nicht kennt, ist ein blinder Wurm, der vom Schmutze lebt. Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apachen.«
»Du bist kein Häuptling, kein Krieger, sondern das Aas einer toten Ratte!« verhöhnte ihn der Alte. »Diese Bleichgesichter alle sollen den Tod der Ehre am Marterpfahle sterben; dich aber werden wir hier in das Wasser werfen, daß dich die Frösche und Krebse verzehren.«
»Nanap neav ist ein alter Mann. Er hat viele Sommer und Winter gesehen und große Erfahrungen gemacht; aber dennoch scheint er noch nicht erfahren zu haben, daß Winnetou sich nicht ungerächt verhöhnen läßt. Der Häuptling der Apachen ist bereit, alle Qualen zu leiden, aber beleidigen läßt er sich von einem Utah nicht.«
»Was willst du mir thun?« lachte der Alte auf. »Deine Glieder sind gebunden.«
»Nanap neav mag bedenken, daß es für einen freien, bewaffneten Mann leicht ist, grob gegen einen gefesselten Gefangenen zu sein! Aber würdig ist es nicht. Ein stolzer Krieger verschmäht es, solche Worte zu sagen, und wenn Nanap neav dies nicht beherzigen will, so mag er die Folgen tragen.«
»Welche Folgen? Hat deine Nase einmal den stinkigen Schakal gerochen, von dem selbst der Aasgeier nichts wissen will? So ein Schakal bist du. Der Gestank, den du – – –«
Er kam nicht weiter. Es ertönte ein Schrei des Schreckens aus den Kehlen aller Utahs, welche in der Nähe standen. Winnetou war dem Alten mit einem gewaltigen Satze gegen den Leib gesprungen, hatte ihn dadurch hintenüber geworfen, versetzte ihm mit der Ferse einige Hiebe und Tritte auf die Brust und gegen den Kopf und kehrte wieder nach seinem Platze zurück.
Auf den allgemeinen Schrei trat für einen Augenblick eine tiefe Stille ein, so daß man die laute Stimme des Apachen hörte: »Winnetou hat ihn gewarnt. Nanap neav hörte nicht und wird nun nie wieder einen Apachen beleidigen.«
Die andern Häuptlinge waren aufgesprungen, um den Alten zu untersuchen. Die Hirnschale war ihm an der rechten Seite des Kopfes eingetreten und ebenso ein Teil des Brustkastens. Er war tot. Die roten Krieger drängten heran, die Hände an den Messern und blutgierige Blicke auf Winnetou werfend. Man sollte meinen, daß die That des Apachen die Utahs zur heulenden Wut aufgestachelt hätte; dem war aber nicht so. Ihr Grimm blieb stumm, zumal der »große Wolf« die Hand zurückweisend erhob und dabei gebot: »Zurück! Der Apache hat den alten Häuptling umgebracht, um schnell und ohne Qual zu sterben. Er dachte, ihr würdet nun über ihn herfallen und ihn rasch töten. Aber er hat sich verrechnet. Er soll eines Todes sterben, den noch kein Mensch erlitten hat. Wir werden darüber beraten. Schafft den alten Häuptling in seiner Decke fort, damit die Augen dieser weißen Hunde sich nicht an seiner Leiche weiden! Sie sollen alle an seinem Grabe geopfert werden. Wir werden Old Firehand und Old Shatterhand lebendig mit ihm begraben.«
»Du lebst nicht lange genug, um mich begraben zu können!« antwortete Old Shatterhand.
»Schweig, Hund, bis du gefragt wirst! Wie willst du die Tage kennen, welche ich noch zu leben habe?«
»Ich kenne sie. Es ist kein einziger mehr, denn morgen um diese Zeit wird deine Seele aus dem Körper gewichen sein.«
»Sind deine Augen so scharf, daß du in die Zukunft zu blicken vermagst? Ich werde sie dir ausstechen lassen!«
»Um zu wissen, wann du stirbst, bedarf es keiner scharfen Augen. Hast du jemals gehört, daß Old Shatterhand die Unwahrheit
Weitere Kostenlose Bücher