Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
unsere Tochter trotzdem eines Tages beschneiden lassen werden.«
Mir stockte der Atem. Was hatte die Frau da gerade gesagt? Hatte ich mich etwa verhört?
Hastig setzte ich mich auf und klickte mit der Maus auf das Stopp-Symbol, um sicherzugehen, dass ich Safas Mutter nicht falsch verstanden hatte. Konnte mein Somali über die Jahre in Europa so schlecht geworden sein?
»Daher bin ich sicher, dass wir unsere Tochter trotzdem eines Tages beschneiden lassen werden«, hörte ich die Afrikanerin noch einmal sagen.
Tatsächlich! Diese Frau war allen Ernstes dazu bereit, das Leben ihres kleinen Mädchens zerstören zu lassen. Ihrer Tochter Unbedarftheit, Glück und Gesundheit für immer zu rauben. Das durfte nicht wahr sein! Das durfte ich unter keinen Umständen zulassen!
Mit Tränen in den Augen sah ich zu, wie Safa ihren schmalen Kopf ängstlich an ihre Mutter schmiegte. An jene Frau, die nicht nur den Vertrag brechen wollte, den sie mit meiner Foundation geschlossen hatte, sondern die obendrein ihr Kind eiskalt für ihren guten Ruf und die Anerkennung ihrer Mitmenschen zu opfern bereit war. Und das vermutlich schon sehr bald.
Mein Herz raste. Ich war außer mir vor Enttäuschung und Zorn. Hatte diese Frau denn gar nichts gelernt? Wozu die vielen Gespräche, in denen meine Mitarbeiter und ich ihr im Detail erläutert hatten, welches unfassbare Verbrechen mit der Beschneidung an Frauen – an ihr, an mir, an uns allen – verübt wurde? Wozu der Vertrag, der Safas Familie ein finanziell abgesichertes Leben, der ihren Kindern eine gute Schulbildung und damit eine bessere Zukunft ermöglichte? Immerhin hatte sich die Desert Flower Foundation darin im Gegenzug verpflichtet, die nächsten Jahre für Wasser, Lebensmittel, Hausrat, medizinische Versorgung und sämtliche Ausbildungskosten aufzukommen. Freilich nur dann, wenn Safa nicht beschnitten werden würde.
Mit der eiskalten Ankündigung von Safas Mutter vor laufender Kamera war all das in Frage gestellt. War dieser jungen, aber durchaus erwachsenen Frau die Beschneidung ihrer Tochter tatsächlich wichtiger als das Überleben und die Zukunft ihrer gesamten Familie? Offenbar war die Tradition stärker als der gesunde Menschenverstand, war der Aberglaube wichtiger als jeder Vertrag.
Traurig blickte ich auf die kleine Standuhr auf dem Nachtkästchen. Es war schon spät. Dennoch könnte niemand meinen Anruf um diese Uhrzeit besser verstehen als Joanna. Ich nahm den Hörer des Zimmertelefons ab und wählte die Durchwahl meiner Wegbegleiterin, die ein verschlafenes »Hallo?« ins Telefon hauchte.
»Joanna«, sagte ich so laut, dass sie damit endgültig aus dem Schlaf gerissen war. »Ich habe mir eben das Video angesehen. Wir müssen sofort nach Dschibuti fliegen und mit Safas Eltern reden.«
»Wieso, was ist denn los?« Joanna verstand meine Aufregung zunächst nicht.
»Safas Mutter spricht in dem Interview darüber, dass sie ihre Tochter trotz unseres Vertrags beschneiden lassen will. Joanna, wir müssen dem Mädchen dringend helfen, bevor es zu spät ist!«
Nun war Joanna hellwach. »Das gibt es doch nicht!«, stieß sie schockiert hervor. »Waris, ich checke gleich die Flugpläne. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Versuche inzwischen wenigstens ein bisschen zu schlafen.« Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, hatte sie schon aufgelegt.
»Tüt, tüt, tüt.« Der Ton im Telefonhörer dröhnte in meinem Ohr wie ein gellendes Alarmsignal.
»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, sagte ich in die Leere des Raums laut zu mir selbst.
Für ein paar Minuten blieb ich reglos sitzen, dann sprang ich auf und bereitete mich in Windeseile auf die Abreise vor. Wie ich Joanna kannte, würde sie bestimmt die frühestmöglichen Flüge nach Dschibuti-Stadt organisieren, und ich wollte am nächsten Morgen keine Minute verlieren, um rechtzeitig am Flughafen zu sein.
Kurz darauf stand mein Trolley fertig gepackt vor dem Hotelschrank, der Laptop, auf dem ich vor weniger als einer halben Stunde die Hiobsbotschaft von Safas Mutter erhalten hatte, war in seiner Tasche verstaut, und ich lag im Bett.
Es war stockdunkel im Zimmer. Die dicken, eleganten Vorhänge hatte ich zugezogen, um die grellen Lichter der Brüsseler Straßen auszusperren. Ich musste versuchen, noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, bevor wir unsere unverhoffte Reise nach Afrika antraten. Doch die Gedanken und Sorgen um Safa rotierten erneut in meinem Kopf. Wie stand es um das Mädchen? Ging es ihr gut? War es
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