Sagen aus Franken
den beiden grossen Türmer. Das Tor selber ist mit den schönsten Figuren aus Stein geschmückt. Die stellen die ganze Biblische Geschichte dar, für alle die Menschen, die nicht lesen können. Über dem Portal aber ist eine wunderschöne grosse Rosette aufgebaut, die in der ganzen Welt berühmt ist. Gegenüber dem Haupttor der Lorenzkirche, hart am Rand des früheren Lorenzerfriedhofs, stand ein grosses, alte Patrizierhaus, das Nassauer Haus. Unten hatte es einen tiefen Keller mit breiten Gewölben; hinten waren grosse Stallungen angebracht und oben türmte sich Stockwerk über Stockwerk mit groBen Zimmern, in denen das schönste Möbelwerk, die feinsten Teppiche und die wertvollsten Gefäßes und Kleinodien aufgehäuft waren. Im Nassauer Haus wohnte ein reicher Mann. Dem waren Frau und Kinder vom schwarzen Tod genommen worden, und seitdem lebte er einsam in seinen grossen Räumen. Als er alt und schwach geworden war, wurde er immer einsamer. Viele nahe und ferne Verwandte kamen in sein Haus und wohnten da. Er liess sie speisen und tränken; aber sonst kümmerte er sich nicht viel um sie. Er ging den Menschen aus dem Wege, weil er ihnen nicht traute. Aber zwei Pferde hatte er, zwei Braune; die hatte er germ. Mit denen fuhr er am liebsten in einer kleinen Kutsche hinaus vors Tor bis zum Waldrand; dort stieg er aus, lieB seine beiden Rösslein grasen, legte sich selber auf die Wiese und schaute in den Himmel. Dann kamen wohl die beiden guten Tiere, stiessen mit ihrer Schnauze nach ihm, und wenn er sie mit seiner Hand auf den Hals tätschelte und gute Worte sagte, dann schauten sie ihm mit ihren treuen Augen so herzlich an, dass er merkte, sie wollten ihm vergelten, dass er ihnen ein guter Herr war.
Der reiche Mann starb. Die Verwandten konnten ihn nicht schnell genug aus dem Haus haben und setzten die Beerdigung schon auf den nächsten Morgen fest. Zur Totenwache hatte aber keiner Zeit. Sie holten sich die Schlüssel und kramten in allen Truhen und Schränken und suchten nach Geld und anderen Schätzen. Und weil keiner genug kriegen konnte, so fingen sie untereinander Streit an, und schlugen sich.
Am anderen Morgen kam das Totenfuhrwerk und holte den reichen Mann ab. Er lag so, wie er gestorben war, in seinem Sarge. Nicht einmal die Hände hatten sie ihm gefaltet. Der Sarg wurde geschlossen und hinüber gebracht in den Friedhof. Als die Glocke zur Beerdigung läutete, regnete es. Ein kalter Wind blies die Regentropfen den Menschen ins Gesicht. Der Pfarrer ging langsam herüber zu dem offenen Grab, neben dem der Mesner und die vier Träger standen. Der Pfarrer wartete, aber es kam kein einziger, der den armen reichen Mann zum Grab begleiten wollte. So hielten die Sechs miteinander eine kleine Beerdigung. Als der Pfarrer zu Ende war – seine Predigt war kurz – da betete er über dem Sarg. Plötzlich hörten die Sechs ein Wiehern über ihren Köpfen. Sie sahen in die Höhe; da schauten aus dem obersten Stockwerk im Nassauer Haus zwei braune Pferdekoepfe heraus. Ihre Hufe lagen auf der Fensterbrüstung wie zum Beten übereinandergelegt Und als der Pfarrer weiter betete, blieben sie droben still, und schauten mit ihren treuen Augen herunter auf das Grab, als wollten sie sagen: wenn dich auch alle Menschen verlassen haben, wir armen, dummen Tiere haben nicht vergessen, dass du so gut mit uns warst.
Die blaue Agnes
Heute noch steht auf der Burg der Sinwellturm (sin-well ganz rund); die Nürnberger nennen in einfach den Simpel. Das ist der Turm, nach dem der Nürnberger zum Spaß fragte: »Welcher Turm ist zugleich der dickste und der dünnste von allen Nürnberger Türmen?«. Das ist der Sinwellturm, denn er steht auf einem breiten Felsen, und so ist er unten der dickste von allen Türmen. Er selbst ist aber viel dünner als die andern Türme. Daher ist er zugleich der dickste und der dünnste. In seinem Innern ist nur eine enge Wendeltreppe, die in vielen Windungen und unzähligen Stufen hinaufführt bis zur Plattform, über der ein Stübchen für den Türmer gerichtet war. Dort wohnte Jörg Kohler, der Wächter, viele Jahre. Frau und Kinder waren ihm gestorben, und er lebte wie ein Einsiedler da droben in luftiger Höhe als Höchster der Stadt. Wenn es brannte, blies er das Feuerhorn, und sein Horn war gewöhnlich das erste von allen Turmwächtern, wenn irgendwo eine Flamme aufzüngelte. Er vertrieb die Zeit am Webstuhl und verdiente manchen Kreuzer damit. Er webte ein grobes Leinen und konnte es mit schöner,
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