Sagen aus Niederösterreich
Burg Greifenstein
Unterhalb der alten Stadt Tulln, wo die Hänge des Wienerwaldes ganz nahe an den breit dahinfließenden Donaustrom herantreten, erhebt sich auf steiler Felsennase der wuchtige vierkantige Bergfried der Burg Greifenstein und schaut beherrschend über das Land.
Hier gebot vor vielen Jahrhunderten Herr Reinhard, ein kühner, tapferer Ritter, der freilich im Zorn auch wild und grausam sein konnte. Seine Ehefrau war früh gestorben und hatte ihm ein einziges Kind, ein zartes Mädchen, Eveline, hinterlassen, das unter der Aufsicht des frommen Burgkaplans Emerich zu einer lieblichen Maid heranblühte. Das schöne Mädchen war aber nicht nur gelehrig und fromm, sondern auch heiter und lebensfroh, liebte den Wald und die ganze belebte Natur, war im Reiten geschickt und fand in der Falkenjagd ein liebes Vergnügen. Ein Edelknappe ihres Vaters, Rudolf, ein hübscher, fröhlicher, junger Mann, war ihr Begleiter und Lehrmeister.
Wenn das schöne Burgfräulein und der stattliche Knappe hoch zu Roß den Schloßberg hinabritten, gaben die beiden stolzen Gestalten ein gar schönes Bild, daß ihnen mancher Untertan des Ritters bewundernd nachblickte und selbst der alte Kaplan Emerich oben am Burgfenster anerkennend mit dem alten Haupte nickte. Rudolf aber verehrte seine junge Herrin mit heißer Liebe, und diese, die die schönsten Stunden ihres Daseins an seiner Seite verbracht hatte, erwiderte seine Neigung.
Eines Tages gestand Eveline dem Kaplan ihre heimliche Liebe und bat ihn um seinen Rat. Der Geistliche erschrak gar sehr; denn er kannte den Jähzorn seines Herrn, der es nie zugelassen hätte, daß seine Tochter die Ehefrau des einfachen Knappen werde. Aber das Herzeleid seines lieben Schützlings rührte ihn sehr, er traute das Paar heimlich in der Burgkapelle und riet ihm, das Schloß zu verlassen; Gott werde in Zukunft alles zum Guten lenken.
Ritter Reinhard war an diesem Tag wie so oft auf der Jagd bei einem ritterlichen Nachbarn und kehrte erst spätabends in seine Burg zurück. Als er seine Tochter vermißte und vom Kaplan hörte, was sich zugetragen hatte, und die Flucht des Paares vernahm, tobte er in grimmigem Zorne und wollte den Alten zwingen, ihm den Aufenthalt der Flüchtlinge zu verraten. Vergebens beteuerte dieser, selbst nicht zu wissen, wohin sich die beiden gewandt hätten.
»Das glaube Euch, wer mag«, schrie der zornige Ritter. »Ihr habt es an der nötigen Aufsicht und Obsorge fehlen lassen und schwere Schuld auf Euch geladen, Ihr sollt mir dafür büßen. Ergreift ihn und warf ihn in den Turm hinab! So wahr ich hier stehe, Ihr werdet das Tageslicht nicht mehr sehen! Und sollte ich je dieses Eides vergessen, so möge mich ein jäher Tod hinraffen, und mein Geist sei ewig ruhelos!«
Die Knechte brachten den vor Schreck erstarrten Greis in das Turmgefängnis. Am nächsten Tag ließ der Ritter die ganze Umgebung der Burg nach den Geflüchteten absuchen, aber nirgends fand man eine Spur von ihnen.
Trüb und freudlos verstrichen nun die Tage auf Burg Greifenstein. Das fröhliche Lachen des Burgfräuleins drang nicht mehr durch die weiten Hallen und Gänge, das emsige Treiben des Knappen fehlte bei der Jagd und im Schloß. Kein Gottesdienst wurde mehr in der verödeten Burgkapelle gefeiert, und das Gesinde schlich bedrückt und mißvergnügt einher, weil der gute Alte im Verlies schmachtete. Der Burgherr selbst saß stundenlang wie zu Stein erstarrt am Fenster seines Zimmers und dachte über das bittere Los seiner Tochter und seine harte Zornestat nach. Mochte auch oft der Zorn noch in ihm aufsteigen, so kamen doch Stunden, wo er sich selbst die Schuld am Unglück der Jungfrau gab, da er sich zu wenig um ihre Erziehung gekümmert habe. Wenn ihm aber alles Sinnen und Grübeln nicht über seinen Kummer hinweghalf, lud er sich befreundete Ritter zu Gast und vergaß sein Leid in Trunk und Spiel.
Der Herbst war vergangen, Feld und Wald hatten sich in winterliches Kleid gehüllt, und tiefer Schnee bedeckte die Fluren. Da wurde dem Schloßherrn eines Morgens von Köhlern gemeldet, man habe in den Wäldern einen Bären gesichtet Mit Knechten und Hunden ritt Reinhard aus, das gefährliche Wild zu erlegen. Über Schluchten und Gräben führte der Weg tief in die frisch verschneiten Wälder hinein. Lange dauerte die Suche, aber kein Bär war zu sehen; Meister Petz hatte sich davongemacht, und einer nach dem anderen der ausgesandten Späher kehrte zu seinem Herrn zurück, um zu melden, daß nirgends
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