Sagen des klassischen Altertums
rief dieser mit einer hallenden Götterstimme vom Himmel herab. »Höre, Freund Philoktet, aus meinem Munde den Ratschluß des Zeus und gehorche! Du weißt, durch welche Mühsal ich Unsterblichkeit gewann; auch dir ist vom Geschicke bestimmt, aus deinem Jammer verherrlicht hervorzugehen. Mit diesem Jünglinge vor Troja erscheinend, wirst du vor allen Dingen von der Krankheit erlöst; dann haben dich die Götter erwählt, den Paris, den Urheber alles Leids, zu vertilgen; dann stürzest du Troja; das Herrlichste der ganzen Beute wird dein Anteil; beladen mit Schätzen fährst du zurück zu deinem Vater Pöas, der noch lebt. Hast du etwas übrig von der Beute, so opfere es auf dem Scheiterhaufen bei meinem Denkmale. Leb wohl!« Philoktet streckte dem verschwindenden Freunde die Arme nach zum Himmel. »Wohlan«, rief er, »zu Schiff, ihr Helden! Gib mir die Hand, edler Sohn des Achill; und du, Odysseus, schreit immerhin an meiner Seite: du hast gewollt, was die Götter wollen!«
DER TOD DES PARIS
Als die Griechen das ersehnte Schiff, das den Philoktet mit den beiden Helden am Borde hatte, in den Hafen des Hellesponts einlaufen sahen, eilten sie scharenweise unter lautem Jubel an den Strand. Philoktet streckte die schwächlichen Hände hinaus und wurde von seinen beiden Begleitern ans Ufer gehoben, welche mühselig den Hinkenden in die Arme der harrenden Danaer führten. Diese jammerte seines Anblickes. Da sprang einer der Helden aus dem Haufen heraus, heftete einen forschenden Blick auf die Wunde, rief mit lauter Rührung seinen Vater Pöas bei Namen und versprach, ihn mit der Götter Hilfe schnell zu heilen. Laut jauchzten die Griechen auf, als sie seine Verheißung hörten. Es war Podaleirios der Arzt, ein alter Freund des Pöas. Schnell schaffte dieser die nötigen Heilmittel herbei; die Argiver aber wuschen und salbten den Körper des alten Helden. Die Unsterblichen gaben ihren Segen: das verzehrende Übel schwand ihm aus den Gliedern und aller Jammer aus der Seele. Der sieche Leib des Helden Philoktet blühte auf wie ein Ährenfeld, das, am Regen dahinwelkend, von sommerlichen Winden erquickt wird. Die Atriden selbst, die Häupter des Volkes staunten, als sie ihn so gleichsam vom Tode auferstehen sahen, und nachdem er sich an Trank und Speise gelabt, trat Agamemnon zu ihm, ergriff ihn bei der Hand und sprach mit sichtbarer Beschämung: »Lieber Freund! Es ist in der Betörung unseres Geistes, aber auch nach göttlicher Fügung geschehen; hege nicht länger Groll darüber im Herzen, die Götter haben uns genug dafür gestraft und diese Versuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen zu lassen. Für jetzt nimm die Geschenke freundlich auf, die wir dir bereitet haben: sieben trojanische Jungfrauen, zwanzig Rosse und zwölf Dreifüße.
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Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Daran labe dein Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim Mahl und allenthalben soll dir königliche Ehre erwiesen werden.«
»Lieben Freunde«, erwiderte Philoktet gütig, »ich zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgendeinem andern Danaer, sollte sich auch einer an mir vergangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Männer beugsam ist und sich bald streng, bald nachgiebig zeigen muß. Doch jetzt laßt uns schlafen gehen, denn wer sich nach dem Kampfe sehnt, tut wohler daran, sich des Schlummers zu freuen als des Schmauses!« So sprach er und eilte ins Gezelte seiner Freunde, wo er bis an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte.
Am andern Tage waren die Trojaner außerhalb der Mauer mit der Beerdigung ihrer Toten beschäftigt, als sie die Griechen schon wieder zum Streite heranrücken sahen. Polydamas, der weise Freund des gefallenen Hektor, riet ihnen, im Gefühl ihrer Schwäche sich hinter die Mauern zurückzuziehen und sich dort getrost zu verteidigen. »Troja«, sprach er, »ist das Werk der Götter, und ihre Werke sind nicht leicht zu zerstören; auch fehlt es uns weder an Speise noch an Getränk, und in den Hallen unseres reichen Königes Priamos liegen noch Vorräte genug, um dreimal soviel Volk zu sättigen, als wir sind.« Aber die Trojaner gehorchten seinem Rate nicht und jauchzten vielmehr dem Äneas Beifall, der sie zu rühmlichem Sieg oder Tod auf dem Schlachtfelde aufforderte. Bald stürmte der Kampf wieder in beider Heere Reihen. Neoptolemos erschlug zwölf Trojaner hintereinander mit dem Speere seines Vaters, aber auch Eurymenes, der Gefährte des kühnen Äneas, und Äneas selbst
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