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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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erreicht hat, wünscht er selbst, daß ich aus dem Hause gehe, weil sein Erbgut sonst doch nur vollends verschwelgt wird. – Aber jetzt erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da du doch so klug zu sein scheinst: Ich habe zwanzig Gänse im Hause und sehe ihnen immer mit Lust zu, wie sie ihren Weizen, mit Wasser gemischt, fressen. Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge her und breche meinen Gänsen die Hälse; alle lagen gemordet, wild durcheinander im Palast, der Raubvogel aber schwang sich in die Lüfte. Ich fing laut an zu schluchzen und träumte weiter. Mir war, als kämen die Frauen aus der Nachbarschaft, mich in meinem Grame zu trösten.
    Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, setzte sich auf das Gesimse und fing an mit Menschenstimme zu reden: ›Sei getrost‹, sprach er, ›Ikarios' Tochter, das ist ein Gesicht und kein Traum: die Freier sind die Gänse; ich selbst, der ich ein Adler war, bin Odysseus, ich bin zurückgekommen, alle Freier umzubringen.‹ So sprach der Vogel, und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach meinen Gänsen zu schauen, aber diese standen ganz ruhig am Trog und fraßen.« »Fürstin«, erwiderte der versteckte Bettler, »es ist gewiß so, wie dir Odysseus im Traume sagte, das Gesicht kann gar keine andere Bedeutung haben; er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.«
    Aber Penelope seufzte und sprach: »Träume sind doch nur Schäume, und morgen kommt der
    entsetzliche Tag, der mich vom Hause des Odysseus scheiden wird. Da will ich den Wettkampf bestimmen; mein Gemahl pflegte manchmal zwölf Äxte hintereinander aufzustellen; dann trat er in die Ferne zurück und schnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hindurch. Wer nun von den Freiern dieses Kunststück mit des Odysseus Bogen, den ich immer noch aufbewahre, vollbringt, dem will ich folgen.« »Tue das, ehrwürdige Königin«, sprach Odysseus entschlossen; »bestimme morgen auf der Stelle den Wettkampf, denn eher kommt dir Odysseus, als daß jene seinen Bogen spannen und durch die zwölf Löcher der Äxte den Pfeil schnellen.«
    DIE NACHT UND DER MORGEN IM PALASTE
    Die Königin sagte dem Fremdling gute Nacht, Odysseus begab sich in den Vorsaal, wo ihm Eurykleia ein Bett bereitet hatte, das er sich gefallen ließ. Über eine ungegerbte Stierhaut waren Schafspelze zum Lager gebreitet, und den Liegenden deckte ein Mantel zu. Lang wälzte er sich schlaflos auf seinem Lager; die schändlichen Mägde, die mit den Freiern zuhielten, stürmten unter Scherz und Gelächter an ihm vorüber, daß sie ihm das Herz im Innersten empörten. Aber der Held schlug an seine Brust, strafte sich selbst und sprach im Geiste: ›Duld es, mein Herz, hast du doch schon Härteres ertragen! Weißt du nicht mehr, wie du beim Zyklopen saßest und ihm zusehen mußtest, wie das Ungeheuer deine Genossen fraß? Dulde!‹ So bezwang er sein Herz; doch warf er sich noch lange hin und her und sann auf Rache gegen die Freier, als sich auf einmal Athene in Jungfrauengestalt über sein Haupt neigte und seinen bangen Gedanken, wie er über so viele Meister werden sollte, mit den Worten ein Ziel setzte: »Kleinmütiger, verläßt man sich doch schon auf einen geringeren Freund, auf einen Sterblichen, der nicht so reich an Ratschluß und an Kraft ist; ich aber bin eine Göttin und beschirme dich in jeder Gefahr; und wenn dich fünfzig Scharen voll Mordlust umringten, dennoch würdest du es hinausführen! Überlaß dich immerhin dem Schlummer, denn endlich tauchst du aus der Trübsal auf.« So sprach sie und bedeckte ihm die Augenlider mit süßem Schlaf.
    Penelope ihrerseits erwachte nach einem kurzen Schlummer, setzte sich aufrecht in ihrem Bette hin und fing laut an zu weinen. Unter Tränen richtete sie ihr Gebet an die Göttin Artemis: »Zeus' heilige Tochter«, rief sie flehend, »träfe doch auf der Stelle dein Pfeil mein Herz oder raffte mich ein Sturmwind hinweg und würfe mich ans fernste Ufer des Ozeans, ehe ich meinem Gemahl Odysseus untreu werden und mich dem 324
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    schlechteren Manne vermählen muß! Erträglich ist das Leiden, wenn man den Tag durchweint und doch die Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon selbst im Schlafe mit den schmerzlichsten Träumen! So war mir im Augenblicke noch, als stände mein Gatte mir zur Seite, herrlich von Gestalt, ganz wie er mit dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war voll Freude, denn ich meinte zuversichtlich, daß es

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