Sagen des klassischen Altertums
der Brust die schreckliche Ägis, wie sie mit der Spitze des Speeres den Ölbaum aus dem unfruchtbaren Boden hervortreibt, zum Staunen der Götter und zum Heile des Landes. So webte Athene ihren eignen Sieg in das Gespinst. In die vier Ecken aber wirkte sie vier Beispiele menschlichen Hochmuts, der durch die Rache der Götter ein trauriges Ende nahm: Hier erblickte man den thrakischen König Hämos mit seinem Weibe Rhodope, die in ihrem Übermut sich Zeus und Hera nannten und deshalb in ragende Berge verwandelt wurden; hier die unselige Mutter der Pygmäen, die, von Hera besiegt, zum Kranich wurde und so mit ihren eignen Kindern kämpfen mußte; in der dritten Ecke war Antigone, die reizende Tochter Laomedons, zu schauen; diese war auf ihre Schönheit und besonders auf ihr herrliches Lockenhaar so stolz, daß sie sich der Hera verglich. Aber die Götterkönigin verwandelte die Haare in Schlangen, die sie bissen und quälten, bis Zeus die Unglückliche aus Mitleid zum Storche umschuf; noch jetzt frohlockt sie klappernd über ihre Schönheit. Endlich bildete Pallas den Kinyras, wie er das Schicksal seiner Töchter beweinte. Sie hatten durch ihren Stolz den Zorn der Hera gereizt und wurden von ihr in steinerne Stufen vor ihrem Tempel verwandelt. Der Vater warf sich jammernd auf sie nieder und bedeckte den fühllosen Marmor mit heißen Tränen. Alle diese Gemälde hatte Athene in den Teppich gewebt und mit einem Kranze von Ölbaumblättern umgeben.
Arachne dagegen wirkte in ihr Gewebe mancherlei Bilder, in denen sie die Götter zu verhöhnen trachtete, so namentlich den Zeus, wie er bald als Stier, bald als Adler oder Schwan, bald als lüsterner Satyr oder in flammendes Feuer oder goldenen Regen verwandelt, die Töchter der Menschen betörte. Dies alles umrankte ein Kranz von Efeu, mit Blumen durchflochten. Und als sie ihr Werk vollendet hatte, vermochte selbst Pallas Athene nicht, die Kunst der Jungfrau zu tadeln, aber mit Entrüstung ersah sie aus den Gebilden den gottlosen Sinn der Bildnerin. Darum zerriß sie zürnend die frevelhaften Gemälde und schlug mit dem Weberschifflein, das sie noch in der Hand hielt, die hoffärtige Jungfrau dreimal vor die Stirne. Dies ertrug die Unglückliche nicht, Wahnsinn erfaßte sie, und mit dem Seil umschlang sie verzweifelnd ihre Kehle. Schon hing sie zuckend in der Luft; da hob sie die Göttin, von Mitleid ergriffen, aus der würgenden Schlinge und sprach: »Lebe, aber hange, du Verwegene, und so sei dein ganzes Geschlecht bis zu den spätesten Enkeln 392
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
bestraft!« Mit diesen Worten sprengte sie Arachnen einige Tropfen von zauberischem Kraute ins Antlitz und ging hinweg. Alsbald verschwanden Haar, Nase und Ohren der Jungfrau, und sie schrumpfte zu einem winzigen, häßlichen Tier zusammen. Als Spinne übt sie noch heute, Faden auf Faden entsendend, die alte Kunst.
MIDAS
Einst schweifte der mächtige Weingott Dionysos mit seinen Bakchantinnen und Satyrn hinüber nach Kleinasien. Dort lustwandelte er an den rebenumrankten Höhen des Tmolosgebirges, von seinem Gefolge begleitet. Nur Silenos, der greise Zecher, ward vermißt. Dieser war, vom Weinrausch überwältigt, eingeschlafen und so zurückgeblieben. Den schlummernden Alten fanden phrygische Bauern; da fesselten sie ihn mit Blumenkränzen und führten ihn zu ihrem Könige Midas. Ehrfürchtig begrüßte derselbe den Freund des heiligen Gottes, nahm ihn wohl auf und bewirtete ihn mit fröhlichen Gelagen zehn Tage und Nächte lang. Am elften Morgen aber brachte der König seinen Gast auf die lydischen Gefilde, wo er ihn dem Bakchos übergab. Erfreut, seinen alten Genossen wiederzuhaben, forderte der Gott den König auf, sich eine Gabe von ihm zu erbitten. Da sprach Midas: »Darf ich wählen, großer Bakchos, so schaffe, daß alles, was mein Leib berührt, sich in glänzendes Gold verwandle.« Der Gott bedauerte, daß jener keine bessere Wahl getroffen, doch winkte er dem Wunsche Erfüllung. Des schlimmen Geschenkes froh, eilte Midas hinweg und versuchte sogleich, ob die Verheißung sich auch bewähre; und siehe, der grünende Zweig, den er von einer Eiche brach, verwandelte sich in Gold. Rasch erhob er einen Stein vom Boden, der Stein ward zum funkelnden Goldklumpen. Er brach die reifen Ähren vom Halm und erntete Gold; das Obst, das er vom Baume pflückte, strahlte wie die Äpfel der Hesperiden. Ganz entzückt lief er hinein in seinen Palast. Kaum berührte sein Finger die
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