Sagen des klassischen Altertums
vielästiger Eichbaum, der dem Zeus geweiht und vom Samen der heiligen Eiche von Dodona gepflanzt war. Auf seinen Stamm fiel plötzlich des Königs Blick. Da sah er unzählige Ameisen, die an der runzligen Rinde und um die Wurzel herumkrochen, im kleinen Munde Getreidekörner ohne Zahl schleppend. »So viele Untertanen«, rief Äakos staunend, »so viele gib mir, die leeren Mauern zu füllen, als ich fleißige Tierchen hier wimmeln sehe!« Da bebte der Wipfel des Baumes, und das Laub rauschte, ohne daß ein Windzug es bewegte. Schauernd und andachtsvoll vernahm es der König und warf sich nieder, küßte die Erde und den heiligen Stamm und gelobte dem Retter Zeus reichliche Dankopfer. Als die Nacht anbrach, legte er sich hoffend und sorgend zur Ruhe. Da erschien dem Schlafenden ein seltsamer Traum: Die Eiche stand wieder vor seinen Augen, und die Ameisen trugen emsig die Körner hin und her. Da war es ihm, als wüchsen die winzigen Tiere, größer und größer hoben sie sich vom Boden empor und standen aufrecht, die Menge der Füße verminderte sich, der Körper nahm allmählich menschliche Gestalt an. Aber nun erwachte der König und erkannte seufzend, daß ein Traum ihn täuschte. Doch horch! Was war das? Ein fernes Murmeln wie menschliche Stimmen! Trügt auch das Ohr des Wachenden? Ach, auch dies war wohl nur ein Traum. Siehe, da ward die Tür hastig aufgerissen; Telamon, des Herrschers Sohn, stürzte herein und rief. »O
Vater, komm und staune! Unerhörtes hat sich ereignet! Mehr hat Zeus an dir getan, als du je gehofft.« In fliegender Hast eilte Äakos hinaus und begrüßte mit strömenden Tränen das Wunder: Ganz wie das Traumbild es ihm gezeigt hatte, sah er die Männer vor sich und erkannte ihre Angesichter. Nun traten sie näher und begrüßten ihn als ihren König, welcher jubelnd rief: »Myrmekes, Ameisen waret ihr; Myrmidonen sollt ihr darum heißen.« So entstanden die tapferen Myrmidonen, die ihren Ursprung nicht verleugneten; denn ein emsiges Volk waren sie, wie ihre Ahnen, ausdauernd bei der Arbeit, sparsam und mit wenigem zufrieden. Äakos aber, nachdem er die gelobten Dankopfer dem gütigen Vater dargebracht, verteilte die herrenlosen Güter, die leeren Häuser und die verlassenen Äcker unter die neuen Bewohner seiner Insel.
Als der fromme König im hohen Greisenalter verschieden war, da setzten die Götter ihn zum Totenrichter neben Minos und Rhadamanthys ein, indem sie auch nach dem Tode seine milde Weisheit und lautere Gerechtigkeit zu ehren trachteten. Seine Söhne und Enkel aber gehörten zu den größten Helden, die je auf Erden gelebt haben: Telamon war der Vater des gewaltigen Ajax, Peleus zeugte den göttergleichen Achilles.
PHILEMON UND BAUCIS
Auf einem Hügel im Lande Phrygien steht eine tausendjährige Eiche und dicht neben ihr eine Linde von gleichem Alter, beide von einer niedrigen Mauer umgeben. Mancher Kranz ist an den Ästen des nachbarlichen Paares aufgehängt. Nicht weit davon breitet ein sumpfiger See die seichte Flut; wo vordem bewohntes Erdreich war, da flattern jetzt nur Taucher und Fischreiher umher. Einst kam in diese Gegend Vater Zeus mit seinem Sohne Hermes, der nur den Stab, nicht aber den Flügelhut trug. In menschlicher Gestalt wollten sie die Gastlichkeit der Menschen versuchen; darum klopften sie an tausend Türen, um ein Obdach für die Nacht bittend. Aber hart und selbstsüchtig war der Sinn der Bewohner, so daß die Himmlischen nirgends Einlaß fanden. Siehe, da stand ein Hüttchen am Ende des Dorfes, niedrig und klein nur, mit Stroh und Sumpfrohr gedeckt; aber im ärmlichen Hause wohnte ein glückliches Paar, der biedre Philemon und Baucis, sein gleichaltriges Weib. Dort hatten sie zusammen die frohe Jugend durchlebt, dort waren sie zu weißhaarigen Alten geworden. Sie machten keinen Hehl aus ihrer Armut, aber leicht ertrugen sie ihr dürftiges Los, heiter und freundlich, in herzlicher Liebe, wenn auch kinderlos, schalteten sie in dem niedrigen Häuschen, das sie allein miteinander bewohnten.
Als nun die hohen Gestalten der beiden Götter diesem ärmlichen Dache sich nahten und die niedere Pforte mit gebücktem Haupte durchschritten, kam ihnen das wackre Paar mit herzlichem Gruße entgegen, der Greis stellte die Sessel zurecht, die Baucis mit grobem Gewebe bedeckte, und bat die Gäste, sich auszuruhen. Das Mütterchen eilte geschäftig zum Herde, stöberte in der lauen Asche nach einem glimmenden Funken, häufte trocknes Holz und Reisig und blies aus dem
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