Sakramentisch (German Edition)

nicht viel, reichte aber für ihn und Bernadette zum Leben. Davon
ab gingen allerdings noch der Versorgungsausgleich für seine geschiedene Frau,
Miete, Telefon, Fernsehgebühren, die Autoversicherung.
    Artur hatte in kurzen Abständen die Tochter samt Schwiegersohn
verloren, er war Witwer, und er bezog Stütze. Er befand sich im Himmel allen
Elends. Am liebsten hätte er sich die Maiwand hinuntergestürzt. Das Einzige,
was ihn am Leben erhielt, war sein goldiges Everl.
    Sakramentisch, das Ganze!
    Die Landklinik war ein achtstöckiges, etwas verbautes Gebäude eine
halbe Autostunde nördlich von Rosenheim, nicht weit von einer Großmolkerei,
einem Bauernhausmuseum und einer Strafanstalt. Dass das Everl in dieses Haus
eingeliefert worden war, hatte ausschließlich mit der Dringlichkeit der
Operation zu tun. Ein offener Schädel kann sehr tödlich sein oder zu
lebenslangen irreparablen Schäden führen.
    Das Everl hatte über eine Woche auf der Intensivstation gelegen und
kam dann auf die Normalstation. Sie hielt sich tapfer, wo immer sie war und wie
immer es ihr ging.
    Ihr Großvater, der Artur, war ständig auf dem Sprung und immer da,
wenn man ihn rief. Die Tage waren anstrengend für Artur, aber er ließ sich
nicht unterkriegen. Auch die Doppelbelastung Landklinik und Maskerade für den
Überfall besorgen hatte er bravourös und fehlerlos gemeistert.
    »Everl, wie geht’s dir denn?«, sagte er und strich ihr über den
Kopf, obwohl sie ihn wahrscheinlich nicht wahrnahm.
    Über Stunden saß er bei ihr und hielt ihre Hand. »Liabs Everl, du
wirst scho wieder gsund. Gaaaanz gsund! Und dann kimmst du zu mir.«
    Nur einen einzigen Tag hatte er das Everl nicht besucht. Das war
einen Tag bevor er ihr ins Ohr flüsterte: »Von jetzt an kann i dir immer was
gaaaaanz Scheens zum Essen machen. Die teuersten Sachen. Pfannkuchen,
Bratkartoffeln, Reiberdatschi mit Apfelmus, Fleischpflanzl mit Kartoffelsalat.
Was du grad mogst und worauf du Lust hast, des mach i dir. Und zu deinem
Geburtstag back i dir an Hefezopf. Ganz für dich alloa.«
    Als er sie an dem Tag verließ, hatte er Tränen in den Augen. Sie
hatte ihn angelächelt und genickt. Sie war über den Berg.

VIER
    So wie es in Texas die größten Hüte, die größten Ranches,
die größten Klapperschlangen, die größten Rindviecher gibt, betrachtet der
wahre Oberbayer sich selbst als den Größten. Das drückt sich auch in seiner
Tracht aus (Tracht ist das, was getragen wird). Der Bua trägt die Lederhose,
das Madl das Dirndlgwand.
    Die Männertracht besteht aus dem Velourshut mit Gamsbart oder
Spielhahnfeder, dem Hemd aus elfenbeinfarbenem Leinen mit Perlmuttknöpfen und
eingestickten Initialen, der Lederhose mit eingestickter Auszier, Hosenlatz und
Hosenträgern, dazu ein grünes Laibi, darüber eine forstgrüne oder mausgraue
Joppe, Wadlstrümpf und Haferlschuh mit seitlicher Schnürung. Und
selbstverständlich tragen unsere Burschen in der seitlichen
Lederhosenmessertasche ein Messer mit Goaßfuß- oder Hirschhorngriff. Nur für
den Fall, dass man einen Speck schneiden, sich gegen ein Wolfsrudel wehren oder
einen Wilderer erstechen muss.
    Die klassische Tracht wird auf dem Land meist zu Trachtenfesten, in
die Kirch oder zu Dorf- und Familienfeiern aus dem Schrank geholt. Oder zu
Volksfesten. Das bekannteste Volksfest, auf dem der Untergang der
abendländischen Kultur vorbereitet wird, ist das Oktoberfest in München. Viel
schöner und rassiger und viel weniger japanisch, italienisch und kanadisch ist
das Rosenheimer Herbstfest.
    Bis noch vor nicht allzu vielen Jahren ging man auf diese
Wahnsinnstummelbierfestplätze so, wie man war. Man zog Jeans an oder eine
robuste Hose mit Hemd und Jacke oder Pulli. Etwas Unempfindliches, was auch
abhandenkommen konnte. Man ging als normaler Mensch hin.
    Das geht heute nicht mehr.
    Heute findet auf den großen Bierfesten eine Art
Musikantenstadl-Brauchtumsfasching statt mit einer Prise urbanen Lederhosen-
und Dirndltums. Du fällst unangenehm auf, wenn du hingehst wie zum Einkaufen
beim Karstadt oder zum Tanken vor dem Besuch bei den Schwiegereltern. Der
Abteilungsdirektor, die Zahnärztin, der Maurerpolier, die Sachbearbeiterin, der
Gebissreiniger kann solche Events nur mehr in krass nachgebayerter Tarnung und
Kriegsbemalung besuchen.
    Indische, südfinnische und Husumer Stardesigner haben dafür den
typischen Landhausstil entworfen. Jeansartige Wildlederhosen mit Chiemgauer
Heimarbeitsstickerei (»Sex & Tracht & Rock ‘n’