Sakramentisch (German Edition)
Stress
wie für viele andere. Tagsüber wartete er in seinem mobilen Hendlstand auf
Kunden. Mittags zwischen halb zwölf und eins standen sie Schlange, am
Nachmittag war er froh über sechs oder sieben Portionen in der Stunde. Wenn
einer sein Hendl eingepackt hatte, vielleicht noch eine Semmel und einen
Krautsalat dazu, wartete Gottfried auf den Nächsten. Und in dieser Zeit des
Wartens gingen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. So auch hier vor der
Gruberin, während er mit übereinandergeschlagenen Beinen wartete.
Schnell wurde ihm klar, dass er es falsch angepackt hatte. Er durfte
nicht passiv bleiben. Die Gruberin hatte den Ordner weggelegt und stellte ihm
Fragen. Er blieb zunächst still sitzen und gab ausweichende Antworten.
Vermutlich, dachte er sich, hat sie das so ausgelegt, als sei er schüchtern
oder deppert oder als habe er etwas zu verbergen. Deshalb gab er sich einen
Ruck. Sie würde nicht lockerlassen, bevor sie die Antworten auf ihre Fragen
bekommen hatte. Er überlegte, was sie wohl gern von ihm hören wollte. Was
höchstwahrscheinlich in das psychologische Profil passte, das sie von ihm
hatte. Zunächst fing er an, knappe und harmlose Antworten zu geben. Dann setzte
er sein Pferdegrinsen auf und erfand kleine Geschichten. Zum Beispiel die von
Isabelle.
Isabelle, Verkäuferin in einem Rosenheimer Schuhgeschäft, folgte ihm
regelmäßig zu seinen Standplätzen, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte.
Montags war er in Bad Aibling, dienstags in Brannenburg, mittwochs in Bad
Feilnbach, donnerstags in Raubling, am Freitag in Pang. Überall dort, wo der
Döner nicht vertreten war. Isabelle – er nannte sie Isa – war immer da. Ein
Hendlgroupie. Noch nie hatte sie etwas bei ihm gekauft. Klar, sie war eine Vege
und aß kein Fleisch. Sie kam nur, um zu tratschen. Manchmal ließ sie ihr Auto
neben dem Standplatz stehen und fuhr in seinem Standlwagen mit zu ihm nach
Hause. Sie gingen ins Kino und manchmal miteinander ins Bett.
Isabelle war reine Fiktion, er erfand sie, während er von ihr
berichtete. Gottfried erzählte Lisbeth Gruber auch noch ein, zwei andere
erfundene Geschichten, doch sie kam immer wieder auf die von Isabelle zurück.
Sie nahm sie zum Anlass, innerhalb der nächsten halben Stunde – es war
inzwischen halb sieben geworden – eingehend sein Sexleben auszuforschen.
»Sie wurden verurteilt. Ich muss wissen, was der Grund war, dass Sie
der Frau an die Brust und in die Hose gefasst haben. So etwas darf nicht mehr
vorkommen, und ich bin dafür verantwortlich, Herr Dandlberg.«
In tiefer Ergebenheit breitete er die Arme aus und verneigte sich.
»Wie oft haben Sie Sex?«, fragte sie.
»Ab und zu.«
»Wie oft ist das?«
»Weiß nicht …« Er erwischte sich wieder dabei, ihr auszuweichen.
Doch sie wollte Konkretes hören. Also bot er ihr Konkretes.
»Eine Woche mal gar nicht. Und dann wieder vier, fünf Mal am Tag. Je
nach Gelegenheit.«
»Und immer mit verschiedenen Frauen, oder?«
Freilich, wie sich’s halt ergibt. Eine feste Freundin habe er nicht.
Wenigstens diese Aussage stimmte.
»Verwenden Sie Kondome?«
Klar, er habe schließlich schon mal was von Aids gehört.
»Und was ist Ihre liebste Stellung?«
»Ääääh, Moment. Wieso … Warum fragen Sie … Gehört das denn … Ist das
denn …?«
Die ganze Zeit über hatte er den Unscheinbaren, in sich Versunkenen,
ein wenig Dämlichen gespielt. Doch nun hatte er die Signale erkannt.
»Da könnt ich Sie ja auch fragen, ob Sie einen BH über ihren Titten tragen.« Dabei sah
er ihr tief in die Augen.
Das hätte er nicht tun müssen.
Lisbeth Gruber war aufgestanden und zog langsam ihren gelben
Wollpulli nach oben. »Soll ich?«, fragte sie.
Gottfried fiel die Kinnlade nach unten. »Kein BH «, stieß er voll Hochachtung aus.
»Sie sind mir eine Antwort schuldig geblieben, Herr Dandlberg.«
»Welche?«
»Welche Stellung Sie am liebsten haben. Komm her, Gottfried. Zeig
mir’s.«
Eine Hand hielt den Pulli über den Brüsten fest. Die andere griff in
die Handtasche und warf ein rosafarbenes Kondom mit grünen Noppen auf den
Schreibtisch.
Und Gottfried Dandlberg tauchte wieder ein in die Freuden des realen
Lebens.
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