Sakramentisch (German Edition)
die
Bereitwilligkeit, mit der sie sich bisher in ihr Schicksal ergab. In der Zeit nämlich,
die sie benötigt hat, um dem Vater zu entfliehen und vom Haus zum Weiher zu
gelangen, ist das Mädchen mit der unterdrückten und aufgestauten Sehnsucht des
Kindes, die Spinnweben von den Fenstern der Vergangenheit zu wischen, zur Frau
geworden.
Es ist ein Frühlingssonntag im Jahr 1995, und Maria ist vierzehn
Jahre alt.
»Hey, wo bist du?« Hummers Stimme.
Es ist wie ein Erwachen. Unsicher sah sie den Mann an, der ihr
gegenübersaß. Sie, das kleine Mädchen vom Land, und er, der Mächtige aus der
großen Welt, der so Großes von ihr wollte. Ihr wurde ganz schwindlig.
»Der Didi ist einverstanden. Er vertraut mir halt. Du sollst dich am
Mittwoch bei ihm vorstellen. Übermorgen. Gleich um neun Uhr in der Früh.«
Als er Marias fragenden Blick gedeutet hatte, setzte er nach. »Dr.
Dieter Smissek. Produzent und Regisseur der Telenovela. Mein Spezl. In München.
›Gegen den Wind‹.«
ZWEI
So kam Maria Schwarz zum Film. Mit dem entschlossenen Gang zum
Produzenten Dieter Smissek räumte sie auf einen Schlag siebenundzwanzig Konkurrentinnen
aus dem Weg, die von den ursprünglich über hundert Bewerberinnen übrig
geblieben waren. Auf dem besten Weg, das Casting zu gewinnen, war Zamira
Bardhyl gewesen, eine bildschöne, dunkelhäutige Albanerin. Doch in dem
Augenblick, als Maria Schwarz die Tür zu Smisseks Büro öffnete, hatte Zamira
keine Chance mehr. Smissek war aufgesprungen, hatte Maria mit Blicken umfangen
und gebellt: »O verdammt, der Uly hat recht. Du bist’s!«
Um der Entscheidung einen korrekten Anstrich zu geben, musste auch
Maria Schwarz vor die Jury. Chefin der Jury war die Programmdirektorin des
Bayerischen Fernsehens. Sie sah gut aus und trug trendige Kleidung.
»Hallo, Maria! Ich bin Lola Herrenhaus. Dies sind meine Kolleginnen
und Kollegen …« Es waren zwei weitere Frauen und zwei Männer, deren Urteil
bereits feststand. Maria musste sich in drei verschiedenen Kleidungsstücken
zeigen, Kleid, Hosenanzug, Bikini, ein paar Fragen aus dem Lesebuch für
Grundschüler der dritten Klasse beantworten und vier einfache Sätze nachsprechen.
Als Siegerin verließ sie den Raum.
»Du brauchst einen Künstlernamen. ›Maria Schwarz‹, wie klingt das!«,
riet ihr Lola Herrenhaus dringend. »Überleg und such dir einen aus!«
Maria schlief zwei Nächte darüber, besuchte den elterlichen Hof,
redete mit den Kühen und den Schafen, mit ihrem Vater sprach sie kaum.
»Clara Gray!«, rief sie Dieter Smissek am folgenden Montag in seinem
Büro entgegen.
»Okay, klingt gut. Wie bist du drauf gekommen?«
»Clara hieß meine verstorbene Mutter, und ›Gray‹ – na, Gray wie
Schwarz!«
»Alles klar, Clara Gray.«
Dass sie sich für die amerikanische Schreibweise für »grau«
entschieden hatte, war weder Smissek noch Maria bewusst. Beide waren des
Englischen nicht mächtig.
Und dass sich die Albanerin Zamira Bardhyl mir nichts, dir nichts einer
dahergelaufenen Deutschen geschlagen geben würde, entsprach weder ihrem
Naturell noch dem ihrer Familie.
* * *
Die Strafe war auf Bewährung ausgesetzt worden. Gottfried Dandlberg
war zum ersten Mal beim Grapschen erwischt worden. Grapschen hatten seine
Verteidigerin und er es genannt. Einfach in der Disco ein bisschen hingelangt,
oben und hinten. Mehr nicht. Das Gericht hatte es als sexuelle Nötigung
ausgelegt. Eine Albanerin, Zamira, schöner Name, schönes Girl. Gut ausgesehen,
das Chick. Dunkler Teint, langes schwarzes Haar, Augen wie leuchtender
Bernstein. Gebaut wie eine Sanduhr. Mordshupen. Jedenfalls geile Schlampe, das
Kind.
Die Verteidigerin hatte ihn über die Möglichkeiten informiert,
möglichst gut wieder aus der Sache rauszukommen. Gottfried legte ein Geständnis
ab, entschuldigte sich bei Zamira und ihrer Familie und spielte allen
Beteiligten Reue vor. Ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Das Beste, was erzielt
werden konnte.
Das zweite Treffen Gottfried Dandlbergs mit der Bewährungshelferin
war angesetzt, verschoben und schließlich auf siebzehn Uhr am Mittwoch, dem 9.
Februar, gelegt worden. Die Bewährungshelferin hieß Lisbeth Gruber. Sie wirkte,
als hätte sie schon Feierabend gemacht, und roch nach frischem Bier. Sie winkte
Gottfried herein und ließ ihn auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch
Platz nehmen. Wie geistesabwesend blätterte sie in einem Ordner hin und her.
Warten war etwas, was Gottfried konnte. Es war für ihn kein
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