Salve Papa
aussehen.
Ein Ranzen voller Lutscher
»Herr Kaminer, wir müssen reden!« Die Klassenlehrerin meines Sohnes hielt mich im Klassenzimmer auf, als ich dort seinen Ranzen abholen wollte. Sebastian selbst hatte in der Sporthalle gerade die Judostunde hinter sich gebracht, ein harter Sport, bei dem die Zweitklässler manchmal gegen Fünftklässler antreten müssen und sogar gewinnen. Im Klassenzimmer herrschte ein fröhliches Durcheinander, und die meisten Kinder der Klasse 3A waren bereits abgeholt worden, weil viele Eltern bei uns selbstständig freischaffend sind. Die Minderheit der Kinder, deren Eltern noch immer einer geregelten Arbeitszeit nachgingen, klebte brav kleine ausgeschnittene rosafarbene Ferkel auf einen schwarzen Karton.
Nichts deutete auf einen Skandal. Und plötzlich diese Aufforderung: »Wir müssen reden, kommen Sie mit!«
Das letzte Mal hatten wir reden müssen, als Sebastian die Fotos von unserer kaukasischen Verwandtschaft – bärtige Männer in Gummistiefeln – in die Schule mitgebracht und in der Klasse behauptet hatte, dies seien Eiszeitmenschen, die er in einer prähistorischen Höhle entdeckt habe.
Mir schwante nichts Gutes. Die Klassenlehrerin, Frau Hansen, wartete mit einer Elterngruppe im Korridor auf mich. Die Mutter von Salomé war anwesend, außerdem der Vater von Karl Friedrich. Die haben doch alle hier einen Knall. Allein schon diese Namen! Wie soll sich ein Kind fühlen, das ständig von seinen Mitmenschen mit Karl Friedrich angesprochen wird? Und was soll das mit Salomé? Ich weiß nicht, welche Hintergründe dieser Name in der deutschen Mythologie hat, in Russland ist Salomé jedenfalls nur als Mörderin von Johannes dem Täufer bekannt. Ein Mann, den alle liebten und dessen Kopf sie aus Trotz unbedingt haben wollte, obwohl er ihr rein gar nichts getan hatte. Wer seine Tochter Salomé nennt, der kann sich auf einiges gefasst machen. Mit diesen Gedanken näherte ich mich der Runde.
»Ihr Sohn verkauft Süßigkeiten an andere Schüler in der Klasse, und zwar zu inakzeptablen Preisen«, sagte Frau Hansen. »Ein Lutscher kostet bei Sebastian einen Euro fünfzig, ein Maoam-Bonbon zwanzig Cent, obwohl es an jedem Zeitungskiosk nur zehn Cent kostet!«
»Bei ALDI zahlt man überhaupt nur drei neunundneunzig für eine Hunderterpackung«, mischte sich die Mutter von Salomé ein.
»Sie sagen eins fünfzig – Karl Friedrich hat den Lutscher für zwei Euro zehn gekauft!« Der Vater von Karl Friedrich goss noch mehr Öl ins Feuer, obwohl ich innerlich schon vollkommen vor Scham verkohlt war. Mein Sohn verkauft Lutscher! Als hätte er das nötig!
»Sie müssen Ihrem Sohn erklären, dass er in der Schule nur etwas tauschen oder verschenken darf«, beendete Frau Hansen das Gespräch. Ich versicherte ihr, sofort alle notwendigen pädagogischen Maßnahmen zu ergreifen.
Auf dem Heimweg fragte ich Sebastian, wie er überhaupt auf die Idee gekommen war, Lutscher zu verkaufen. Es hätten sich zu viele Süßigkeiten von seinem letzten Geburtstag Anfang Mai angesammelt, erklärte er, die hätte er auf lukrative Art loswerden wollen. Zuerst hatte er die Idee zu tauschen, aber seine Mitschüler hatten nichts zum Tausch da, außer Bargeld. Deswegen sah sich mein Sohn gezwungen, die Lutscher zu versteigern, wobei jeder mitbieten durfte, wie bei eBay. Das führte zu einer enormen Preissteigerung und dies wiederum dazu, dass seine Freunde ihn schließlich verpfiffen, um ihr Geld zurückzubekommen. Ich habe ihm natürlich alle Geschäfte in der Schule verboten. Aber irgendwie war es beruhigend zu wissen, dass die heranwachsende Generation schon so früh so selbstständig tickt. Jetzt kann ich ohne Weiteres alt werden: Ich weiß, wir werden nicht verhungern. Irgendetwas wird dieser Sohn immer dabeihaben, dachte ich. Entweder einen Sack voller Geld oder einen Ranzen voller Lutscher.
Salve, Papa!
Meine Tochter hat in diesem Jahr die Schule gewechselt. Statt ihre Lebenszeit ein fünftes Jahr in der Grundschule zu vergeuden, geht sie jetzt aufs Gymnasium. Nicht auf irgendein Larifari-Gymnasium, sondern auf ein Gymnasium mit Schwerpunkt Latein. Wir hofften schwer auf diesen Schwerpunkt. In der Grundschule haben die Kids einander vier Jahre lang den Rücken massiert und ständig hatte Nicole dort irgendwelche Projekttage statt Unterricht. Die Kinder spielten Gesellschaftsspiele, zerschnitten jede Menge Papier, bauten kleine Vögelchen zusammen, sangen den Omas im Altersheim Gute-Nacht-Lieder vor und
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