Salve Papa
Buch verfasste. Ich habe dieses Buch als Kind mit großer Begeisterung gelesen. Aber heute denke ich, hatte er überhaupt eine Wahl? Es gibt Zeiten, da können die Menschen nicht auswählen, was sie am liebsten werden wollen – Held oder Buchhalter. Sie werden zum Heldentum gezwungen.
Die Lehrer am Gymnasium sind lustig. Die Schulleiterin sieht aus wie ein Vampir, behauptet meine Tochter. Der Lateinlehrer ist ein Humorist. Er erzählt jeden Tag den gleichen Witz. »Du erinnerst mich an einen Feuerwehrmann, der zum Brand erscheint, aber vergessen hat, den Schlauch mitzunehmen.« Das sagt er immer, wenn einer der Schüler etwas vergessen hat. Manchmal sagt er zur Abwechslung: »Du erinnerst mich an einen Bankräuber, der in die Bank geht, aber seine Knarre zu Hause gelassen hat.« Am nächsten Tag vergisst der Lateinlehrer anscheinend, dass er den Witz schon einmal erzählt hat, und erzählt ihn noch mal und noch mal mit der Aufdringlichkeit eines Bankräubers oder Feuerwehrmannes, der seinen Schlauch beziehungsweise seine Knarre vergessen hat, der alles vergessen hat: Wer er ist und was er zu tun hat, aber trotzdem jeden Tag pünktlich vor der Bank, vor dem brennendem Haus, im Gymnasium erscheint, um seinen Witz erneut vorzutragen.
Zwei Mädchen aus Nicoles Klasse essen in der Mittagspause von zu Hause mitgebrachtes Sushi, von den – deutschen, nicht japanischen – Müttern handgerollt. Die anderen bekommen in der Kantine Erbsen mit Kartoffelpüree, und montags gibt es immer Pizza. In der Hofpause sendet das Schulradio stets das gleiche Lied. Der Text ist schlecht zu verstehen, aber beim Refrain singt eine Babystimme: »Irgendwann sind wir alle tot, beim Zähneputzen oder Abendbrot.« Ach, eigentlich ist es schon toll, so ein Gymnasiast zu sein. Zur großen Pause rasen sie alle die Treppen hinunter wie eine Idiotenarmee bei der Attacke. Wie schlagkräftig ist diese Armee? Ein alter römischer General sagte einmal, es sei für den Sieg nicht ausschlaggebend, wie viele Soldaten eine Einheit hat. Wichtig sei allein, wie viel Staub sie aufwirbeln kann. Nach diesen Kriterien ist das Gymnasium unschlagbar.
Wir spielen Schach
Meine Eltern spielen Schach, fast jeden Tag, seit fünfundvierzig Jahren. Meine Mutter hat immer die schwarzen, mein Vater die weißen Figuren. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, steht ein Schachbrett auf dem Tisch im Gästezimmer mit einer angebrochenen Schachpartie.
»Und? Wer gewinnt?«, erkundige ich mich.
Die Antwort auf meine Fragen ist höfliches Schweigen. Nach einem halben Jahrhundert des Spielens kommt es nicht mehr darauf an, wer gewinnt. Mein Vater spielt klassisch konservativ, man kann sagen langweilig. Er baut langsam sein Verteidigungssystem auf, hält die Diagonalen frei und wartet wie eine Spinne, bis meine Mutter einen Fehler macht und sich in seinem Netz verfängt. Meine Mutter denkt gerne unorthodox, sie sucht nach neuen Spielvarianten und opfert manchmal eine Figur, um die Verteidigung meines Vaters durcheinanderzubringen und zu durchbrechen.
Auf dem alten russischen Schachbrett meiner Eltern ist an der Seite ein kleines Schildchen aus Metall montiert, auf dem steht: »Dem Genossen Kaminer zur Erinnerung an seine Teilnahme am Schachturnier der Gewerkschaft der Binnenschiffer.« Auf den Schachuhren, die meine Eltern benutzen, steht auf einem ähnlichen Schildchen: »Der Genossin Tibilewitsch für den zweiten Platz im Schachwettbewerb des Moskauer Instituts für Maschinenbau 1957.« Diese Schildchen deuten darauf hin, dass meine Eltern schon immer Schach gespielt haben, noch bevor sie einander kennen lernten.
Zu meinen ersten Kindheitserinnerungen gehören Schachfiguren sowie Männer, die auf einer Bank im Hof unseres Hauses sitzen und Schach spielen. Um die Bank herum standen andere Männer, die ihnen Ratschläge gaben oder aufgeregt das Spiel kommentierten. Von den drei Schulen in unserem Bezirk, die nebeneinanderstanden, war eine ein »Schachinternat« und hieß auch so. Dort wurden die zukünftigen Großmeister geschult, die Elite des Schachspiels. Sie in der Pause zu verprügeln, war für jeden normalen Schüler Ehrensache. Aber nicht nur in diesem Internat oder auf den Höfen, in der Sowjetunion wurde überall Schach gespielt. Die Gefangenen spielten im Knast, die Arbeiter während der Mittagspause, die Kosmonauten im All. Sie hatten dazu Magnetfiguren, damit ihnen im Zustand der Schwerelosigkeit die Partie im spannendsten Moment nicht wegflog. In der roten Ecke
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