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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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schon längst Kutschen und Karren baute. Inzwischen müssen die Archäologen gestehen, dass die Lateinamerikaner gar nicht so dumm und faul waren wie bisher angenommen. Sie kannten das Pulver und das Rad durchaus, fanden aber für beides keine Verwendung in ihrem Alltag, weil sie friedliche, intelligente Ökojäger waren, die weder Rad fahren noch herumballern wollten. Für die Spanier waren sie deswegen leichte Beute. Schnell eroberten sie Lateinamerika und lernten »tschüs« als erstes Wort des neuen Kontinents. So kam dieses Wort in die europäischen Sprachen.
    Das ist, ich wiederhole, meine private These. Die Wahrheit werden wir sowieso nicht erfahren, zumindest nicht auf diesem Gymnasium, und nicht in der fünften Klasse, die aus ihren »Projekttagen« nicht herauskommt.
    Nach einer Woche Antimobbing-Training begannen die Literaturprojekttage, anlässlich des Berliner Literaturfestivals. Die Schüler sollten einander ein Jugendbuch über Liebe und Freundschaft vorlesen, die Rollen verteilen, den Text mit einer Theaterwissenschaftlerin einüben und am vierten Projekttag in Anwesenheit des Autors, der wegen des Literaturfestivals gerade in Berlin weilte, als Stück aufführen. Das war der Plan. Aber am ersten Projekttag regnete es stark, und die Theaterwissenschaftlerin war im Stau stecken geblieben. Sie kam erst kurz vor Unterrichtsschluss. Die Kinder hatten sich in der Zwischenzeit mit Klatsch- und Versteckspielen warmgehalten. Am zweiten Tag bauten die Schüler eine Theaterdekoration: eine Tür aus Pappe. Meine Tochter war für das Schlüsselloch zuständig. Die Theaterwissenschaftlerin, die wahrscheinlich in der DDR sozialisiert worden war, entpuppte sich als fromme Anhängerin des sozialistischen Realismus. Obwohl die Tür aus Pappe war, musste das Schlüsselloch absolut realistisch aussehen, und meine Tochter zerschnitt sich bei der Arbeit alle Finger.
    Die Aufführung wurde auf den vierten Tag um vierzehn Uhr festgelegt. Der Autor kam aus Amerika, grinste breit und strahlte eine positive Lebenseinstellung aus. Weil die Kinder sich den Text noch nicht merken konnten und die Tür aus Pappe über Nacht auseinandergebrochen war, wurde aus dem Schauspiel ein Bewegungstheater in Begleitung eines Diaprojektors. Alle waren begeistert, auch ich. Die Vorstellung war äußerst spannend geraten. Der Amerikaner applaudierte sich vor Begeisterung beide Hände wund. Als Junge war er auf einem amerikanischen Fremdsprachengymnasium gewesen mit Französisch, Chinesisch, Deutsch und auch ein bisschen Latein. Aber er könne sich an nichts mehr erinnern, seit er als Jugendbuchautor tätig sei. Widerlegte aber gleichzeitig diese Aussage, indem er sich mit einem »tschüs« von uns verabschiedete. Ein Stückchen Latein war bei ihm also doch hängen geblieben. »Tschüs! Tschüs!«, riefen die Kinder zurück. So viel hatten inzwischen alle drauf.
     

Wie der Stahl gehärtet wurde
    Das Gymnasium meiner Tochter ist groß, verwinkelt und hat viele Treppen. Überall an den Wänden hängen Ergebnisse schülerischer Leistungen: Zeichnungen beispielsweise oder Berichte über die angestrebte Zusammenarbeit mit einer Partnerschule in Ecuador. Eine ganze Treppe ist mit markigen Sprüchen in verschiedenen Sprachen geschmückt, die den Gymnasiasten eine Kostprobe internationaler Weisheiten geben. Zu jeder Etage gehört eine Weisheit. Die französische Weisheit ist, dass nur die Liebe zählt. Die Weisheit auf Latein habe ich nicht verstanden, und auf Englisch stand da, man dürfe nie aufgeben: Egal, was passiert, try again. Auf Deutsch war zu lesen, dass Fortschritt nur dann möglich sei, wenn man gegen die Regeln verstieß. Gegen die Regeln verstoßen, das hätte wohl jeder Gymnasiast gerne. »Ich muss heute die Schule schwänzen, um des Fortschritts willen und um die Weltentwicklung zu beschleunigen!«
    Ganz unten im Erdgeschoss las ich zwei Sätze auf Russisch: »Unsere Zeit auf Erden ist zu knapp bemessen, um sie für sinnlose Späße zu vergeuden. Nutze jeden Augenblick deines Lebens, damit dich später die vertanen Jahre nicht schmerzen. M. Gorki.«
    Das ist Blödsinn, das hat Gorki niemals gesagt. Der Spruch ist von Nikolai Ostrowski, der im letzten russischen Bürgerkrieg und während der nachfolgenden Industrialisierung zu einem Helden der Revolution wurde und das Buch Wie der Stahl gehärtet wurde schrieb, bevor er noch in jungen Jahren an den Folgen einer Verletzung starb. Er war blind und an den Rollstuhl gefesselt, als er sein

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