Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
Durchschnittskind, kletterte nicht mehr auf den Bücherschrank und hörte überhaupt auf, Bücher zu lesen. Aus meiner frühkindlichen Geniephase sind nur einige seltsame Krakel geblieben, die ich in den Kochbüchern meiner Mutter hinterlassen habe. Anscheinend ahnte ich schon damals die Zukunft voraus und wollte mich selbst vor irgendetwas warnen oder mir etwas Wichtiges mitteilen, was sich mir in meinem damaligen genialen Zustand offenbart hatte. Ich machte mir zu diesem Zweck viele Notizen in Koch- und Telefonbüchern, die aber dermaßen kryptisch sind, dass ich sie bis heute nicht entziffern kann.
    Nach dem Fall mit dem Schrank ging, wie gesagt, mein Interesse an Literatur stark zurück und entflammte erst wieder zu Beginn der Pubertät. Ich las damals allerdings fast ausschließlich erotische Literatur, später entdeckte ich Fantasy und Sciencefiction, Kriegs- und Liebesromane. Ich hatte eine philosophische Phase, in der ich mich nur für anspruchsvolle theoretische Literatur interessierte, danach folgte eine romantische Periode, als ich überhaupt keine Prosa mehr sehen wollte und nur Gedichte las. Heute mag ich am liebsten Publizistik, Memoiren längst verstorbener Künstler und wissenschaftliche Studien über Tierhaltung. Meine Erwartung an die Literatur hat sich aber überhaupt nicht verändert. Es muss immer eine spannende Geschichte sein oder zumindest eine interessante. Sie muss vernünftig erzählt werden, einen Anfang und ein Ende haben und echt sein. Nicht verspielt und nicht offenbar, bloß echt. Das war’s eigentlich schon. Na gut, dazu kommen natürlich noch die sogenannten literarischen Qualitäten – die Sprache, der Satzbau, die Grammatik, Sie werden jedoch im Allgemeinen überschätzt. Egal, wie gut die Sprache ist, die »literarischen Qualitäten« allein können kein Buch retten, wenn die Geschichte nicht stimmt.
     

Windelfrei
    Jede Großstadt hat mindestens einen Bezirk, in dem die Geburtenrate ständig steigt, während sich die Bewohner in den umliegenden Bezirken der Fortpflanzung verweigern. In meinem Bezirk gibt es sehr viele Babys. Sie krabbeln und laufen manchmal auch ohne Windeln herum, denn viele von ihnen werden modern »windelfrei« erzogen. Deswegen machen diese Babys oft in die Hosen, was ihr Leben meiner Meinung nach später erschweren wird. Im Kindesalter wird der Mensch nämlich am stärksten geprägt, und wer als Baby ständig in die Hose macht, wird das auch im Alter tun.
    Den Anstieg der Geburtenrate hat unser Bezirk zwei Tibet-Geschäften zu verdanken, die fast gleichzeitig nebeneinander aufgemacht haben. Diese Läden verkaufen schöne bunte orientalische Tücher: Kopftücher, Schultertücher, vor allem aber Babytücher, die schnell in Mode geraten sind. Die Kombination aus einem Babytuch, einer Dreiviertelhose und einem dicken Rock darüber bildet den berühmten Frauen-Dreiteiler, der zum Kern der Berliner Frauenmode gehört. Nur ein Haken ist dabei: Ein Babytuch ohne Baby sieht aus wie ein Segel ohne Wind. Deswegen kamen in kürzester Zeit eine Menge Kinder in unserem Bezirk auf die Welt, die farblich und von ihrer Größe her gut zu den Tüchern passten. Gleich nach ihrer Geburt wurden sie in Tücher eingewickelt und schaukelten auf ihren Müttern hin und her, während die Fahrrad fuhren. Fahrrad und Baby im Tuch galt als besonders schick. Aber durch das ständige Schaukeln und Kopfstoßen entwickeln diese Fahrradbabys, kaum dass sie angefangen haben, selbstständig zu laufen, eine seltsame Gangart, die mich an Seeleute erinnert, wenn sie nach langer Fahrt zum ersten Mal wieder auf festem Boden stehen.
    Gefüttert werden diese Seebabys hauptsächlich in Kneipen. Dafür sucht die Mutter meist die Kneipe aus, die gerade am vollsten ist. Dort setzt sie sich an einen möglichst zentralen Tisch, holt ihre Brust heraus und steckt sie dem Baby in den Mund. Das macht sie nicht aus Spaß. Das öffentliche Stillen soll die Kinder zu kommunikativen Wesen machen. Wenn es windelfreie Kinder sind, so machen sie gleich im Anschluss an die Fütterung in die Hose.
    Die Mode mit den windelfreien Kindern kommt aus einem Buch, dass eine durchgeknallte Kanadierin geschrieben hat. Das Buch mit dem Titel Windelfrei will beweisen, dass Windeln ein Ausdruck des Totalitarismus sind. Ich bin im Totalitarismus aufgewachsen und kann diese These nur bestätigen. Man hat uns damals sogar sehr eng – ganzkörperlich sozusagen – eingewickelt. Manche Kinder blieben bis zu ihrem vierzehnten

Weitere Kostenlose Bücher