Salve Papa
Lebensjahr so eingewickelt. Sie lagen wie die Mumien in ihren Bettchen und konnten sich kaum bewegen. Man versprach sich davon eine stolze Körperhaltung und eine ruhige disziplinierte Kindheit. Außerdem galt das Einwickeln als Vorbeugungsmaßname gegen Onanie. Gebracht hat es nur eine lebenslange Angst vor engen Hemden und einen Hass auf Krawatten.
Die windelfreie Kindheit von heute funktioniert so: Um sieben Uhr früh und um sieben Uhr abends wird das Baby auf den Topf gesetzt. Ab der zweiten Lebenswoche weiß es Bescheid, was zu tun ist. Die Methode aus dem Buch funktioniert eigentlich ganz gut, erklärten mir schon mehrere Mütter. Nur wenn Besuch kommt oder das Telefon klingelt, ist das Baby durcheinander und macht zur falschen Zeit. Oft stelle ich mir vor, was passiert, wenn dieses Kind zufällig Schriftsteller wird. Es wird ein Buch schreiben mit dem Titel Nackte Kindheit, basierend auf seinen eigenen Erfahrungen. Es wird darin über skrupellose Techniken berichten, mit denen seine Eltern es damals zu widernatürlichen Handlungen gezwungen haben. Es wird mit diesem Buch auf Tour gehen, überall Vorlesungen halten und jedes Mal, wenn im Publikum ein Handy klingelt, wird es in die Hose machen. Denn nichts prägt uns stärker als die Kindheit.
Meine kleine Heimat
Mit heimlichem Stolz las ich neulich den Namen meiner kleinen Heimat, der Akademiker-Pavlov-Strasse im Moskauer Bezirk Kunzevo, in den russischen Nachrichten. Und zwar nicht klein geschrieben irgendwo unten auf der letzten Seite, sondern in Fettschrift ganz vorne auf der ersten Seite gleich mehrerer Zeitschriften sowie im Internet. Es war herzerfrischend, den Namen der Straße, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, in der Zeitung zu lesen.
Sofort wurden Erinnerungen wach: ein Meer von Grün, der Parkplatz mit zwei verrosteten Autos, der nach altem Wasser riechende Sumpf neben der Müllhalde, auf der wir als Kinder Versteck spielten, die kleinen schmuddeligen Fünfetagenhäuschen, drei an der Zahl, die trotz ihrer Zierlichkeit unglaublich vielen Menschen ein Dach über dem Kopf gaben. Ferner der obligatorische Sandkasten auf dem Hof, in dem unser Hausverwalter schlief, wenn er den Weg nach Hause nicht fand, die Omas, die im Wald hinter dem Kaufhaus leere Flaschen sammelten, die Jugendlichen, die im Wald Messerwerfen um Geld spielten, die Erwachsenen, die sich abends vor demselben Kaufhaus nach freiwilligen Spendern für eine kleine Fete umschauten.
Ruhig und unspektakulär verlief meine Kindheit. Vom Moskauer Glamour hat man in unseren Wäldern wenig gesehen. Dafür hat in diesen Wäldern die Bürgerwehr im Winter 1941 die Panzer der Faschisten aufgehalten – »mit bloßen Händen«, wie einige Alteingesessene erzählten. Noch heute kann man in den Absenkungen des Waldbodens die Schützengräben von damals erkennen. Mit diesem mit Stacheldraht und Eisenschrott gespickten Wald sind meine tollsten Erinnerungen, die wichtigsten Etappen meines Erwachsenwerdens verbunden. Der erste Kuss, die erste Zigarette, der erste ausgeschlagene Zahn. Der Wald war unser Klub.
Als ich vor ein paar Jahren meine Frau dorthin mitschleppte, um ihr meine kleine Heimat zu zeigen, ist sie auf ihren Stöckelschuhen nicht weit gekommen. Sie ekelte sich ein bisschen. Sie hatte sich Moskau irgendwie schneidiger vorgestellt. Mein Plan, sie würde mich besser verstehen, wenn sie sähe, wo und wie ich aufgewachsen bin, ist nicht aufgegangen. Es ist schwierig, jemandem solche persönlichen Orte nahezubringen. Umso mehr freute ich mich, als ich meine kleine Heimat auf der Titelseite aller wichtigen Nachrichtenportale fand. Endlich hatte auch sie etwas vom Glamour der neuen Zeit abbekommen, an den Prozessen teilgenommen, die die Welt verändern. Der Aufmacher war sehr schön. Er lautete: »Massenschlägerei in der Akademiker-Pavlov-Straße – der Wald wehrt sich.« In dem Artikel stand, die Einwohner hätten die Polizei und die angerückten Bauarbeiter zusammengeschlagen. Damit protestierten sie gegen den geplanten Bau einer Gesundheitsfarm, eines großen Wellnesscenters in ihrem Bezirk.
O du meine kleine Heimat, auch nach vielen Jahren bleibst du unverwechselbar. Bleib stark, lass dich nicht verwellnessen.
Der Kremlweihnachtsmann
In Deutschland hat »Gemütlichkeit« einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Sie wird als Tugend und große Errungenschaft einer stabilen, die Menschen veredelnden Demokratie gepriesen. Ich kann mit Gemütlichkeit nichts
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