Salve Papa
anderen Mädchen, das als Junge verkleidet war, die Hand geben, sich einmal um die eigene Achse drehen, nicken und lächelnd die Bühne verlassen. Trotzdem war sie sehr aufgeregt und konnte in der Nacht vor der Vorstellung nicht schlafen. Am Morgen war sie plötzlich mit ihrem Kleid unzufrieden, meckerte herum, hatte Lampenfieber und wollte nicht aus dem Haus gehen. Wir kamen zu spät. Das Jugendzentrum platzte bereits aus allen Nähten. Alle Sitz- und Stehplätze waren doppelt besetzt, und es gab auch keine richtige Bühne, sondern nur einen freien Fleck Boden, um den herum sich die Eltern gruppierten. Mütter, Väter, Tanten, Omas und Opas belegten jedes Fensterbrett und alle Heizungsrippen. Mit roten Gesichtern und vom ständigen Applaudieren angeschwollenen Händen schmolzen sie langsam vor Rührung und Überhitzung.
Der tschetschenische Teil war gerade zu Ende, als wir kamen. Es hatte sich dabei, so erzählten uns einige Eltern, um einen volkstümlichen Tanz gehandelt, den man bei Hochzeiten in den Bergen aufführt. Ein junger Mann musste, um die Gunst seiner Braut zu gewinnen, in der Luft mit Dolchen jonglieren, während seine Freunde ihn daran zu hindern versuchten. Die Frauen standen derweil im Kreis herum und klatschten rhythmisch in die Hände. Es war bestimmt toll gewesen, auch wenn wir den Tanz leider verpasst hatten. Nun wurde das letzte Blut aufgewischt und der Contredance angekündigt.
Die Kinder zogen ihre Kostüme an, teilten sich in Paare, und der Mann von Katjuscha bediente den Kassettenrekorder. Die Eltern ließen ihre Kinder auf die Tanzfläche und schlossen ihre Reihen wieder. Meine Tochter kam, nahm die Hand ihrer Partnerin, drehte sich zwei Mal um die eigene Achse und schaute sich panisch um: Alle Rückzugswege waren von den Zuschauern abgeschnitten. Also gaben sich die Mädchen erneut die Hände und drehten sich und drehten sich und drehten sich, bis die Musik ausging. Der Applaus donnerte auf die Kinder nieder wie eine Lawine. Ein Vater sprang mir mit voller Kraft auf den Fuß, und eine Tante fiel vor lauter Aufregung in Ohnmacht. Die Eltern fielen über ihren Nachwuchs her, und nur mit Glück gelang es uns halbwegs lebendig aus dem Saal zu kommen. Seitdem macht ein neuer Spruch in der Familie die Runde. Wenn jemand stark übertreibt und eine grenzenlose Begeisterung an den Tag legt, ganz egal aus welchem Anlass, heißt es, »Hör mir auf mit dem tschetschenischen Ballett«.
Was erwarte ich von der Literatur
Ich hatte schon immer übertrieben große Erwartungen die Literatur betreffend. Ein richtiges Buch muss seine Leser wie ein Blitz treffen. Es muss ihnen die Augen öffnen oder meinetwegen auch schließen, die grimmigen zum Lachen bringen und die klugen dumm aussehen lassen. Ein richtiges Buch kann man nicht einfach so zur Seite schieben. Seine Lektüre hinterlässt Spuren, Kratzer an der Seele.
In meiner Familie wurde lange Zeit verschwiegen, dass ich bereits im dritten Lebensjahr dicke Wälzer las. Erst vor Kurzem haben mich meine Eltern darüber aufgeklärt. Ich erinnere mich natürlich an gar nichts, an keine einzige Zeile aus dieser Zeit. Damals war ich nur ein Pups, der nicht einmal sprechen konnte. Meine taube Oma sah sich oft und gerne Fernsehfilme für Taubstumme mit Untertiteln an, ich guckte mit. Ich denke, durch das ständige Anschauen dieser Untertitel hatte ich in Kürze autodidaktisch das russische Alphabet gelernt und alle Bücher vom unteren Buchregal durchgelesen. Laut Auskunft meiner Mutter interessierte ich mich damals hauptsächlich für Kochbücher und Telefonbücher, je dicker, desto besser. Anscheinend hatte ich darin eine ganz besondere Wahrheit entdeckt, die Wahrheit der Koch- und Telefonbücher, die mir den Sinn des menschlichen Lebens nahebrachten.
Die Suche nach diesem Sinn hat meine Kindheit am allerstärksten geprägt. Während andere Kinder am Nuckel lutschten, kletterte ich schon mal auf den Bücherschrank, um an noch mehr und noch dickere Bücher zu gelangen. Einmal endete mein Drang nach neuem Wissen in einer Katastrophe. Der Bücherschrank kippte um und begrub mich unter vielen dicken Wälzern. Es waren zu viele, ich konnte mich nicht von ihnen befreien, lag auf dem Boden und schrie. Meine Oma guckte sich währenddessen ungerührt weiter Filme für Taubstumme mit Untertiteln an – sie konnte mich aus gesundheitlichen Gründen nicht hören.
Nach diesem Vorfall löste sich meine Hochintelligenz in Luft auf. Ich wurde zu einem ganz normalen
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