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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Erwachsenen eine sinnvolle Nachmittagsbeschäftigung für ihre Kinder für unabdingbar. Die Jungs wurden zum Sport geschickt: Boxen, Leichtathletik, Eishockey, selten Schach. Die Mädchen gingen zum Ballett, alternativ zur Musikschule. Dies war die Ordnung der Welt, und niemand wagte es, sie anzuzweifeln. Boxende Mädchen und Jungs am Klavier kamen zwar auch immer wieder vor, sie wurden aber als skurrile Ausnahmen, als eine Art Sporttransvestiten, angesehen, die man brauchte, um die Regel zu bestätigen.
    Meine Frau, die ihre Kindheit und Jugend auf Sachalin verbrachte, einer Insel, auf der sich die Bewohner die meiste Zeit im Jahr nur durch in den Schnee gegrabene Tunnel bewegen können, erzählte mir einmal, wie die erste Ballettlehrerin auf die Insel kam. Es war Mitte der Siebzigerjahre, die Ölförderung auf Sachalin erreichte Höchstmengen, und der Staat bemühte sich, den dortigen Arbeitern und Geologen das Leben etwas zu versüßen. Im Kulturhaus »Ölarbeiter« wurde ein »Kollektiv des klassischen Tanzes« gegründet, das eine vom Festland delegierte Ballerina leitete.
    Die Aufnahme in das Sachaliner »Kollektiv des klassischen Tanzes« fand unter harten Bedingungen statt. Die Sachaliner Eltern standen einen Tag lang vor dem Kulturhaus in der Kälte Schlange, damit ihre Töchter bei der Lehrerin kurz vortanzen durften. Man musste sich ein paar Mal biegen und bücken und zusammen mit der Lehrerin ein paar Bewegungen aus dem »Tanz der kleinen Schwäne« machen. Danach wurde das Kind weggeschickt und mit den Eltern gesprochen.
    Meine Frau, damals gerade acht Jahre alt geworden, gab sich Mühe, obwohl sie sich nach fünfstündigem Warten kaum noch bewegen konnte. Die Ballettdame schaute sie genau an, schickte sie raus und sagte zu ihrer Mutter:
    »Ihre Tochter hat Fleiß, aber keine natürliche Begabung. Ich kann sie in meine Klasse aufnehmen und es mit ihr versuchen. Das wird ihr aber wehtun. Sind Sie damit einverstanden? Wollen Sie ihrem Kind wehtun?«, fragte die Ballettlehrerin direkt.
    »Nein«, sagte Olgas Mutter und brachte ihre Tochter am nächsten Tag in die Klavierklasse der Musikschule. Dort haute Olga fleißig zehn Jahre lang in die Tasten: Mozart, Weber, Tschaikowski, Etüde Parzhaladse. Sie ist keine Klavierspielerin geworden, doch Musik ist ein gutes Lebenselixier, sie tröstet und beruhigt. Wenn einem schwer ums Herz wird, die Welt einem brutal, die Mitmenschen doof vorkommen, setzt man sich ans Klavier, drückt mit beiden Füßen die Pedale und los geht die Etüde von Parzhaladse, mit einem solchen Enthusiasmus, dass sich die technogewohnten Nachbarn aus den Fenstern hängen.
    Musik ist Kommunikation, sie gibt einem das Gefühl, gehört zu werden, nicht allein auf der Welt zu sein. Deswegen war ich dafür, unsere Tochter in die Musikschule zu schicken. Meine Frau wollte aber, dass sie Ballett lernte. Die Erinnerung an ihr Sachaliner Scheitern ließ ihr anscheinend keine Ruhe. Und so landete meine Tochter im Ballettunterricht unserer Landsfrau Ballerina Katjuscha. Trotz ihrer kräftigen Statur und runden Formen überzeugte Katjuscha als Lehrerin: Sie konnte sich mit dem Fuß locker hinter den Ohren kratzen und schaute während der Tanzstunde nie auf die Uhr. Sie war aus Kiew nach Berlin gekommen und, soweit ich das beurteilen kann, schon immer eine Ballerina gewesen. Auf Jugendphotos sah man Katjuscha im Hinterhof eines Bauernhauses, wo sie in einem Ballerinakleidchen das Bein hoch über den Zaun legt. Ein großer Schäferhund und eine Ziege schauen ihr dabei begeistert zu.
    Früher in Russland brauchte eine Ballerina Jahre, um auf die Bühne zu gelangen und in der Öffentlichkeit zu tanzen. In Berlin geht es ruckzuck. Nach einem Monat war bereits der erste öffentliche Auftritt in einem Jugendzentrum geplant, zum Tag des tschetschenischen Balletts, wie uns Katjuscha mitteilte. Wir haben gelacht. Unter einem tschetschenischen Ballet konnten wir uns nur Lustiges vorstellen. Männer mit rasierten Beinen und Kalaschnikows vor dem Bauch und Frauen in Ganzkörperetuis. In Wirklichkeit ging es um die Völkerverständigung. Das Jugendzentrum unseres Bezirks hatte ein Tanzkollektiv tschetschenischer Jugendlicher und unseren Ballettkreis eingeladen, erklärte mir Katjuscha. Sie würden ein gemeinsames Programm zum Besten geben – Säbeltanz und Contredance, um des Weltfriedens willen.
    Meine Tochter hatte beim Contredance eigentlich nur zwei kurze Auftritte, am Anfang und am Ende. Sie musste einem

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