Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Emily: »Ich hab mir’s überlegt, du weißt schon, was du da gesagt hast…«
»Was denn?«, fragte Nora.
»Na, das mit Bobby Ellis. Ich glaub, ich find ihn nett.«
Nora strahlte übers ganze Gesicht, als sie Emily am Arm fasste. »Wirklich? Das muss ich sofort Rory sagen! Wenn du was mit ihm unternehmen willst – wir könnten alle zusammen ins Kino gehen! Oder uns was zu futtern holen und uns bei Rory zu Hause einen Film angucken – du weißt schon, wenn seine Mom nicht da ist – oder vielleicht könnten wir…«
Emily unterbrach sie: »Jetzt komm mal wieder runter. Ich hab nur gesagt, dass ich Bobby Ellis ganz in Ordnung finde…«
Nora wirkte enttäuscht. »Du hast gesagt, du findest ihn nett. Er ist einer von Rorys besten Freunden. Ihr passt perfekt zusammen.«
Emily bemühte sich, begeistert zu klingen. »Ich möchte ihn gern näher kennenlernen. Mehr kann ich noch nicht sagen…«
Nora strahlte wieder übers ganze Gesicht. »Na klar. Du bestimmst die Regeln. Ich sag Rory, dass Bobby dich mal anrufen soll.«
Emily hatte das Gefühl, als würde eine mächtige Woge über ihr zusammenschlagen, während sie jetzt nickte. Vielleicht konnte sie ja innerhalb der nächsten Stunde ihre Nummer ändern oder am besten verlor sie einfach ihr Handy.
Mit Bobby Ellis ein längeres Gespräch zu führen, war so ungefähr das Grässlichste, was sie sich denken konnte; nur noch übertroffen von der Vorstellung, neben ihm im Kino zu sitzen. Aber was stimmte da mit ihr nicht? Jede Menge Mädchen fanden Bobby Ellis super. Wahrscheinlich fiel ihnen bloß nicht auf, dass er einfach über alles lachte, was irgendwer zu ihm sagte. Oder dass er einem immer zu nahe kam, wenn man sich mit ihm unterhielt.
Emily hatte mal irgendwo gelesen, dass die guten Erinnerungen die schlechten auslöschten. Aber wenn es nun andersherum war? Wenn die schlechten Erinnerungen die guten auslöschten?
Bobby Ellis hatte sie immer schon genervt. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das auf einmal anders werden sollte.
***
Sam hatte überlegt, ob er noch mal zu den First Unitarians gehen sollte. Aber er konnte einfach nicht.
Wenn man sich zehn Jahre lang unsichtbar gemacht hatte, nicht mehr wusste, wo man geboren worden war, und nicht mal sicher war, wann man Geburtstag hatte (es musste im Sommer sein, denn er erinnerte sich vage an eine Eistorte und daran, im Freien unter einem Rasensprenger hindurchgelaufen zu sein), wenn der Vater einfach den Familiennamen geändert und man vergessen hatte, wie die Mutter aussah, dann war ein Raum mit so vielen fremden Leuten Angst einflößend wie ein Bett aus scharfen Messern.
War es also Zufall, dass er mit Riddle in den Superior-Cuts-Salon zum kostenlosen Modellschneiden ging? Auf dem Schild im Schaufenster stand, dass sie Freiwillige suchten. Aber hatten sie sich schon jemals bei irgendetwas freiwillig gemeldet? Sie sollten doch mit niemandem reden. War das nicht die Regel?
Als sie noch klein gewesen waren, hatte ihr Vater ihnen einfach die Haare abgesäbelt, als ob er ein Seil kappen würde. In den letzten Jahren hatten sie sich selbst die Haare geschnitten, mit einer Schere, die Clarence im Handschuhfach des Lkws liegen hatte. Wen kümmerte es schon, ob sie einen anständigen Haarschnitt hatten.
Sam brachte die Erinnerung an das singende Mädchen keinesfalls mit dem Bedürfnis zusammen, sein Äußeres verändern zu wollen. Er bemerkte nur einfach sein Spiegelbild in den Schaufenstern der Geschäfte und stellte fest, dass er und sein kleiner Bruder irgendwie komisch aussahen. Und plötzlich schien ihm das was auszumachen.
Keiner von den beiden hatte jemals einen Friseursalon betreten, zumindest konnten sie sich nicht daran erinnern. Nachdem Sam erklärt hatte, sie hätten gerne beide einen Modellschnitt, wurde das Prozedere mit einem Vorher-Foto eröffnet, das mit einer Digitalkamera aufgenommen wurde.
Riddle machte Crystal, dem Lehrmädchen, Angst. Weder sah er ihr in die Augen, noch nahm er zur Kenntnis, was sie zu ihm sagte. Und als sie ihn fotografieren wollte, senkte er den Kopf mit den widerspenstigen blonden Haaren und starrte auf seine Füße. All seine Aufmerksamkeit galt wie immer Sam, der, wie ein Vater, nur einen halben Meter von ihm entfernt stand.
Das würde kein leichtes Spiel werden.
Riddle wollte nicht, dass sie ihm die Haare wusch, das machte er ihr auf die ihm eigene Weise deutlich. Und als Crystal dann auch noch auf den Hebel am Fuß seines Stuhls trat, um ihn in eine
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