Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Einzelheiten von Objekten, Sam das große Ganze. Aber das war entscheidend, denn so konnte er absehen, was zu tun war, um durch den Tag zu kommen.
Das konnte Riddle nicht. Er brachte seine Zeit damit zu, mit der linken Hand, die den Stift fest umklammert hielt, komplizierte Zeichnungen von der Innenseite von Gegenständen anzufertigen, merkwürdige mechanische Skizzen. Er brauchte keine leeren Blätter für seine Obsession, was günstig war, weil er sie selten zu Verfügung hatte.
Riddle trug seit zwei Jahren ein Telefonbuch aus Memphis mit sich herum, auf dessen bedruckte Seiten er Details von irgendwelchen Gegenständen gezeichnet hatte. Das Innenleben eines Radios. Oder das Gitter an der Hinterseite einer alten Lastwagenheizung. Einen kaputten Toaster, der keinen Boden mehr hatte. All das hatte er auf die Telefonnummern anderer Leute und auf Werbeseiten für Elektrogeschäfte und italienische Restaurants gezeichnet.
Im Großen und Ganzen sprach Riddle nicht. Er verließ sich auf Sam, wenn es darum ging rüberzubringen, was er im Kopf hatte, vor allen Dingen wenn es ihren Vater betraf. Ihr Vater hörte nicht gern zu, wenn andere redeten, weshalb es ihm gelegen kam, dass einer seiner Söhne meist auf stumm geschaltet hatte.
Die beiden Jungen sprachen mit einer Stimme – wobei die Worte aus dem Mund des älteren kamen. Clarence war kein scharfsinniger Denker. Und es gab durchaus einen Grund, weshalb er seinen zweitgeborenen Sohn Riddle genannt hatte.
***
Sam ging die staubige Straße hinunter, bis er den alten Lkw erreichte, in dem sein Vater auf dem Vordersitz schlief. Der Lastwagen war voll beladen, aber so hielt Clarence es immer. Er wollte von jetzt auf gleich losfahren können. Und nie nahm er die Sachen mit, die den beiden Jungen wichtig waren.
Wenn die Stimmen in Clarence’ Kopf ihm sagten, dass Gefahr im Verzug sei, dann nahm er sich eine Decke und schlief auf dem Vordersitz. Er war dann in höchster Alarmbereitschaft. Oft blieb er die ganze Nacht lang wach und gab seiner Müdigkeit erst nach, wenn die Sonne schon aufging.
Sam spähte durchs Seitenfenster ins Wageninnere. Daran, wie der Kopf seines Vaters lag, konnte er erkennen, dass er sich stundenlang nicht bewegt hatte. Eine Sorge weniger.
Als Sam das heruntergewohnte Haus betrat, in dem sie sich niedergelassen hatten, war Riddle, wie nicht anders zu erwarten, am Zeichnen. Beim Anblick seines großen Bruders blinzelte er und ein kleines Lächeln erhellte sein Gesicht. Sam blieb im Türrahmen stehen und fragte: »Pizzaränder oder weggeworfene Tortilla Chips?«
Wie vorauszusehen, zuckte Riddle nur mit den Achseln und wischte sich über seine laufende Nase. Sam antwortete für ihn: »Wir gehen erst zu den Müllcontainern und dann zum Minimarkt.«
Er griff tief in die Hosentasche und holte eine Handvoll Münzen hervor, die meisten davon Pennys. Bei vielen sah das Kupfer schon ganz grünlich aus.
»Ich hab die Münzen aus dem Brunnen vor der Bank gefischt. Wir können uns also was aussuchen.«
Jetzt lächelte Riddle richtig. Er hob seinen schäbigen Rucksack vom Boden auf, schob sein ramponiertes Telefonbuch und einen Stift hinein und dann brachen die beiden Jungen auf.
***
Keiner wusste, wer er war.
Mr Bingham, der selbst ernannte Kirchendiener der Gemeinde, der immer neben der Tür aufpasste, verwechselte ihn mit Nick Penfold. Als Emily ihm erklärte, dass Nick gerade in Florida bei der Beerdigung seiner Großmutter sei, kratzte Mr Bingham sich nur am Kopf.
Sie setzte ihre Nachforschungen fort. In der Gemeinde waren keine neuen Familien zugezogen, das hatte Mrs Herlihy im Pfarrbüro ihr bestätigt. Der Junge ging auch nicht auf die Churchill High School, da war sie sich ganz sicher. Und es gab nur noch eine andere Highschool in der Stadt.
Emily ließ sich von ihrer Freundin Remi am Nachmittag zu einem Basketballspiel in der César Chávez High School mitnehmen, weil dort bestimmt jede Menge Jungs sein würden. Sie saß auf der Tribüne und tat so, als würde sie zuschauen, aber in Wirklichkeit musterte sie nur die Gesichter, eins nach dem anderen. Nichts.
Am nächsten Morgen sagte sie zu ihrer besten Freundin Nora: »Okay, vermutlich weißt du schon, dass ich gestern hinter der Kirche gekotzt habe, oder?«
Nora nickte, ohne von ihrem Handy aufzusehen. »Ja, nachdem du dein Solo gesungen hast.«
»Genau. Aber es gibt da noch was, das du nicht weißt.«
Emily erzählte Nora sonst immer alles, und zwar sofort. Deshalb kam das jetzt
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