Samuel Koch - Zwei Leben
relativ wenig Erfahrung mit meinem Rollstuhl gesammelt. Es konnte also sein, dass ich ab und zu mal aneckte, weil wegen des starren Halskragens, den ich damals noch tragen musste, die Sicht nach unten stark eingeschränkt war und ich die Proportionen der Armlehnen schlecht einschätzen konnte. Hinzu kam, dass ich die Bewegung meiner Hand mit meiner Schultermuskulatur bewirke, aber ihre Ausführung nicht spüren und überprüfen kann.
Der Rollstuhl ist ja ein sehr fein abgestimmtes Hightech-Produkt, an das man sich erst einmal herantasten muss. Und er ist ziemlich schwer und ziemlich stark; von dem Ungetüm überrollt zu werden, wäre sicher unschön.
Auch an diesem Tag gab es kleine Abstimmungsprobleme. Eigentlich wollte ich nur an den Tisch heranfahren. Eigentlich. Dabei übersah ich aber, dass sich der Bedienungsgriff für die Geschwindigkeit unter die Tischkante schob. Was nun geschah, passierte in Bruchteilen von Sekunden: Das Steuerungselement wurde nach hinten gedrückt und damit der Gashebel nach vorne auf Vollgas. Der Elektromotor des Rollstuhls entfaltete gehorsam seine nicht unbeträchtlichen Kräfte und schob alle vier gedeckten Tische durch den ganzen Raum, bis alles vor der Fensterfront hochgebockt wurde. Die Tische kippten mit infernalischem Lärm um, Spaghetti, Chicken-Nuggets, Salat, Pizza und Getränke flogen hinunter und ergossen sich in einem unbeschreiblichen Tohuwabohu auf den Boden des Aufenthaltsraums. Glas splitterte, Geschirr klirrte, Tomaten- und SalatsoÃe vermischten sich eher unästhetisch auf dem sonst klinisch reinen Linoleumboden.
Mein Opa, der gerade an der gegenüberliegenden Seite hatte Platz nehmen wollen, konnte sich nur mit einem beherzten Sprung davor retten, von den Tischen und meinem wild gewordenen Rollstuhl zerdrückt zu werden. Ich saà hilflos in meiner Geisterbahn und konnte nichts machen. Erst Daniel, der den roten Notknopf fand, stoppte die Amokfahrt.
Im Aufenthaltsraum sah es aus wie in einem Katastrophenfilm nach der Schlüsselszene: Pizza, Nudeln und Salat lagen in kaum mehr erkennbarer Form am Boden durcheinander, das Ganze schwamm in einer schwarz-gelben Softdrink-SoÃe, zwei Tische waren demoliert, die Blumenvase geborsten und die Tulpen, die dringestanden hatten, dekorativ über das Chaos zerstreut. Und mittendrin saà ich mit meinem Monster-Rollstuhl, mit dem ich das Ganze angerichtet hatte. Alle Neune!
âEs hat ausgesehen wie in einem Slapstick-Filmâ, erinnert sich ein Freund. âIch konnte nicht anders: Nachdem wir klargestellt hatten, dass Samuel sich nicht verletzt hatte, musste ich einfach lachen!â
Ausflüge und Adrenalin
In der Klinik in Nottwil prophezeiten manche Pfleger und Therapeuten uns Patienten: âIrgendwann stürzt jeder Rollstuhlfahrer mit seinem Gefährt.â In der Klinik selbst allerdings konnte ich das Personal vor dem gefürchteten Sturzprotokoll bewahren. Nur bei Exkursionen habe ich allerhand mit meinem Rollstuhl angerichtet. Zum Beispiel auf einem Supermarktparkplatz.
Chris und ich waren zusammen zum Einkaufen gefahren. Ich bin nach dem Einkauf schon mal nach drauÃen vorausgerollt, während er bezahlte. Dann kam Chris nach, um das Auto für meine Einfahrt vorzubereiten. Dazu muss er es erst aufschlieÃen, dann mit einem Knopfdruck zur rechten Seite hin absenken und schlieÃlich die Seitenrampe ausfahren. Es dauert ein paar Minuten, bis das Auto so weit ist.
Ich nutze diese Zeit immer, um den Rollstuhl ganz flach zu stellen, damit er auch sauber ins Auto passt. Das ist Millimeterarbeit. Als alles bereit war, bin ich etwas zu flott auf die Rampe zugefahren; dann wollte ich bremsen. Ich unterschätzte die Bremssensibilität meines neuen Rollstuhls, der so ruckartig stoppte, dass ich hinauskatapultiert wurde.
Chris, der auf dem Fahrersitz gesessen hatte, war in Ãberschallgeschwindigkeit bei mir und schaffte es irgendwie, mich gerade noch rechtzeitig aufzufangen, bevor mein Kopf auf dem Asphalt aufschlug.
Chris erinnert sich mit Schaudern an die Szene. âIch bin schon losgestartet, als ich gesehen habe, wie schnell Sam auf die Rampe zufuhr. Jetzt bricht er sich noch mal den Hals! , dachte ich.â
Doch dank Chrisâ Reaktionsvermögen war mir auÃer aufgeschürften Knien nichts passiert. Mit der Hilfe einiger freundlichen Passanten hob er mich wieder in den Rollstuhl zurück.
âMeine Knie haben noch eine Stunde
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