Samuel Koch - Zwei Leben
später gezittertâ, erzählt Chris im Rückblick.
Ich sage jetzt was Ketzerisches: Gestürzt hin oder her â für mich war es ein tolles Erlebnis! Ich stand nämlich in dieser Ausnahmesituation plötzlich voll unter Adrenalin. Ich spürte dort, wo ich es spüren konnte, wie mein Herz pochte. Plötzlich fühlte sich das an wie in manchen Situationen meines früheren Lebens. Wie vor einem Wettkampf, wie in dem entscheidenden Teil einer schwierigen Ãbung, wenn man alle Kräfte mobilisieren muss. Stress pur.
Wunderbar! Ich habe den Sturz im Nachhinein genossen.
Deshalb war ich total gut drauf, nachdem mich Chris leicht ramponiert nach Hause gebracht hatte.
Am Abend dieses Tages besuchte mich mein alter Physiotherapeut Hagen zu Hause. Ich erzählte ihm die Geschichte, und danach prangte auf Hagens Gesicht sein typisch sympathisches Grinsen. Er kennt mich ja.
Die Tücken des Alltags
Nicht nur der Rollstuhl hat seine Tücken. In horizontaler Lage kann ich meine rechte Hand mithilfe der Schwerkraft und einer speziellen Muskelanspannung der Schulter nach oben bewegen â im Schlaf passiert das manchmal auch unwillkürlich.
Dadurch ist es mir in Nottwil des Ãfteren passiert, dass ich âJamesâ, das Blasrohr, in das die Patienten hineinpusten müssen, um die Schwestern zu rufen, mit so einer unwillkürlichen Armbewegung weggeschubst habe und dann nicht mehr an ihn herankam. So verbrachte ich einige Nächte damit, mit meinem zarten Stimmchen um Hilfe zu rufen, was mit Sicherheit ein gutes Atemtraining war.
Eines Abends habe ich es geschafft, mir den âJamesâ, der einen Durchmesser von nur 5 Millimetern hat, mit der unerwünschten Hilfe meines vagabundierenden rechten Arms selbst ins Nasenloch zu rammen. Ich erwachte von dem plötzlichen Schmerz, Blut floss mir aus der Nase. Um Hilfe rufen konnte ich nicht, denn âJamesâ steckte fest und war deswegen zu seinem eigentlichen Zweck im Moment nicht zu gebrauchen. Krampfhaft versuchte ich, mit meiner Oberlippe das andere Nasenloch zu verschlieÃen, um so den Blaseffekt auszulösen, doch das klappte nicht.
In diesem Fall war meine Stimme kräftig genug, und schon nach einer halben Stunde retteten mich die Schwestern. In solchen Momenten lernt man Geduld.
Die Lösung, die mir die Pfleger und Schwestern vorschlugen, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden, kam für mich nicht infrage. Sie wollten mir die Arme festbinden. Ich konnte allein den Gedanken nicht ertragen, dass der letzte Körperteil, den ich noch bewegen konnte, nun auch noch fixiert werden sollte.
Unterwegs
Einer meiner ersten selbstständigen Ausflüge, noch mit Halskragen, führte mit Mirjam zu einer Stadtbesichtigung nach Luzern und danach ins Kino. Am Ende des Films bin ich vorgefahren vor die erste Reihe, um dort zu wenden und dann zum Ausgang zurückzusteuern. Der Kinosaal hatte eine leichte Steigung hin zur Leinwand, die ich bei der schlechten Beleuchtung erst nicht wahrnahm. Ich wendete, dann ging es bergab, und plötzlich kippte mein Oberkörper nach vorne. Und mit ihm mein rechter Arm, der den Joystick kontrollierte. Mit dem bekannten Effekt; der Hebel schob sich auf Vollgasposition, und ich krachte Kopf voraus mit Blick auf den Boden gegen eine der Sitzreihen, von der ich gleich mal ein Stück mitnahm.
Mirjam war geschockt und erst ein wenig hilflos. Dann hat sie mich mit aller Kraft wieder aufgerichtet. Meine Schienbeine hatte ich mir eingeklemmt bei diesem Unglück â schon wieder ein Vorteil: keine Schmerzen. Trotzdem die Angst, ich könnte mir etwas gebrochen haben.
Dabei machte ich eine eigentümliche Erfahrung: Als ich sah, wie armselig meine Beine eingeklemmt waren, tat mir dieser Anblick richtig weh, wenn auch nur in meinem eigenen Kopfkino. So, wie wenn man jemandem bei einem Sturz zuschaut und denkt: âAutsch, das hat bestimmt wehgetan!â
In der Klinik in Nottwil wurde noch am gleichen Abend alles überprüft. Meinen Beinen und mir war nichts weiter passiert. Dem Kino übrigens auch nicht; jedenfalls kein Schaden, den man nicht rasch beseitigen konnte.
Am zweiten Weihnachtstag 2011 war ich gerade drei Tage wieder zu Hause in Efringen-Kirchen. Als VorbeugungsmaÃnahme gegen Lagerkoller habe ich mich an einem warmen Morgen allein davongeschlichen. Mein Bruder half mir bei Flucht und Tarnung.
Ich fuhr die alte DorfstraÃe entlang und wollte sie an
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