Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Wohnung zurück, schnappte mir die Petbox und stapfte damit die Treppe hoch, fest entschlossen, das Biest einzufangen und es notfalls bis zum 15. Januar darin schmoren zu lassen.
Da ich in der zweitletzten Etage wohnte, rechnete ich mir gute Chancen aus, sie in die Enge treiben zu können. Doch langsam dämmerte es mir, dass eine Katze niemals das tut, was man von ihr erwartet.
Als ich oben ankam, saß sie ganz friedlich auf dem Fußabtreter. Sie kratzte geduldig mit der Pfote an der Tür, wie sie es drei Tage zuvor bei mir getan hatte.
Mit einem Mal sah ich mich gerettet. Bestimmt gehörte die Katze dem alten Mann in der Wohnung über mir, der immer so mürrisch wirkte. Er war kahl wie eine Billardkugel und sein Alter schwer zu schätzen; nach den Furchen auf Stirn und Hals zu urteilen, musste er die siebzig überschritten haben. Er hatte schon hier gewohnt, als ich vor sechs Jahren eingezogen war, und seitdem waren wir uns nur einige wenige Male im Treppenhaus begegnet.
Ich klingelte, der Summer ertönte, und die Tür öffnete sich. Ich stieß sie auf, und die Katze schlüpfte sofort hinein. Meine Vermutung war also richtig gewesen.
Ohne recht zu wissen, was mich trieb, betrat ich dieWohnung. Da die Katze zurückgebracht war, hatte ich dort eigentlich nichts mehr verloren.
Ein süßlicher Moschus-Geruch hing in der Luft, wie von einer Duftlampe.
»Hallo?«, fragte ich vorsichtig, während ich die Tür hinter mir schloss. Das Risiko, der Katze treppabwärts hinterherrennen zu müssen, falls sie noch einmal entwischte, wollte ich nicht eingehen.
Keine Antwort.
Neugierig ging ich den Flur entlang, der ebenso geschnitten war wie meiner. Bevor ich ins Wohnzimmer kam, blieb ich vor einem Bild stehen, das mir sofort ins Auge gefallen war. Es war ein Kunstdruck des Wanderers über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich.
Während meiner Studienzeit hatte ich mich sehr für diesen Maler der deutschen Romantik interessiert, für seine Bilder melancholischer, beinahe mystischer Landschaften, die immer ein Gefühl der Einsamkeit und Abgeschiedenheit vermittelten. Auf einem seiner traurigsten Bilder, dem Eismeer , ist der Schatten eines untergegangenen Schiffes unter einer Pyramide von Eisschollen zu erahnen. Ich hatte einmal gelesen, dass »dieses Werk ein Monument für den Sieg der Natur über das menschliche Streben« sei und »den romantischen Pessimismus in seiner Essenz« darstelle.
Der Wanderer – dem ich nun viele Jahre nach meinem Studium wiederbegegnete – zeigt einen zerzausten Herrn von hinten auf einer Klippe. Auf einen Stock gestützt, betrachtet er das turbulente Wolkenmeer zu seinen Füßen. Es könnte Werther sein, wie er da steht und beschließt, allem ein Ende zu machen.
Ich hatte dieses Bild schon oft gesehen, in Büchern und im Museum. Doch plötzlich hatte Der Wanderer eine neue Bedeutung für mich erlangt. Mir wurde auf einmal bewusst, dass er eine Allegorie auf mein Leben sein könnte. Ich war dem Mann auf dem Bild nicht unähnlich: Ich stand oben auf einem Berg und verstand nichts von dem, was unten in der Welt vor sich ging.
»Kommen Sie nun rein oder bleiben Sie draußen?«, fragte eine ungeduldige Stimme vom Wohnzimmer her.
»Meinen Sie mich?«, fragte ich, aus meinen Gedanken aufschreckend.
»Wen wohl sonst?«, gab die Stimme zurück und lachte schallend.
Ich besann mich wieder darauf, weshalb ich eigentlich hier war, und betrat das Wohnzimmer; ich wollte die Angelegenheit mit der Katze klären und dann so schnell wie möglich verschwinden.
Der Alte saß an einem modernen Schreibtisch, der mitten im Raum stand. Ich sah mich nach der Vorrichtung um, mit der er die Tür geöffnet hatte, aber da war lediglich ein Laptop auf dem Tisch. Sein Besitzer hämmerte in die Tasten, als sei ich unsichtbar. Neben sich hatte er ein Buch liegen, das ich auch einmal besessen hatte: Eine kurze Geschichte von fast allem . Darin hatte ich das mit den 650000 Stunden gelesen.
Als der Alte seine Arbeit unterbrach und zu mir auf schaute, bemerkte ich, dass neben ihm, auf einem kleineren Tisch, eine kleine Modelleisenbahn aufgebaut war, wie sie die Kinder in meiner Jugend gehabt hatten. Unter dem Tisch lag ein flauschiger Teppich, auf dem die Katze es sich gemütlich gemacht hatte.
Der Alte wandte sich mit unerwartet sanfter Stimme an mich: »Also, was führt Sie zu mir?«
»Ich bin der Katze hinterhergelaufen, sie hat mich hierher geführt. Ich vermute, sie gehört Ihnen.«
»Da vermuten Sie
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