Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
hatte. Ich könnte ihn fragen, wie die Untersuchung gelaufen war. Nachdem ich beinahe zwei Minuten gewartet hatte, erklang seine röchelnde Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen um mich. Wie kommst du mit dem Buch voran?«
Verflixt, dachte ich. Die Wahrheit war, dass ich mich, seit ich Gabriela gefunden hatte, herzlich wenig um das Manuskript gekümmert hatte. Also wechselte ich das Thema und erzählte ihm von meinen Neuigkeiten.
»Ich habe da einen Typen kennengelernt«, sagte ich, »er heißt Valdemar und redet auch immer von der Wissenschaft, genau wie Sie.«
»Muss wohl der Zeitgeist sein«, erwiderte der Alte. »Und was ist mit Gabriela?«
»Ich habe sie gefunden. Sie arbeitet in einem Platten laden. Allerdings erinnert sie sich nicht an mich.«
»Egal. Versuch dein Glück einstweilen anderswo. Du weißt ja, was man so sagt ...«
Ich sollte es nicht mehr erfahren, denn genau in dem Moment waren die 30 Cent verbraucht und die Verbindung brach ab. Ich durchsuchte meine Taschen nach ein paar Münzen, brachte aber nur zehn Cent zum Vorschein. Das reichte nicht für einen Anruf.
Ohne Aufschluss darüber erlangt zu haben, was man so sagt, verließ ich die Zelle, und mit der gespannten Erregung eines Mannes, der an die Front zieht, machte ich mich auf den Weg zum Plattenladen.
ROMANZEN
Es heißt, gute Theaterschauspieler empfinden kurz vor Beginn der Vorstellung eine fast unerträgliche Spannung, die verfliegt, sobald sich der Vorhang hebt.
So ähnlich ging es auch mir. Kaum hatte ich mein Ziel erreicht, war ich plötzlich ganz ruhig und imstande, mich gedankenverloren zwischen den Regalen herumzudrücken, wie alle Liebhaber klassischer Musik es tun. Zu den Klängen eines langsamen Streichquartetts sanft den Kopf wiegend, wandte ich mich dem Regal »M« wie Mendelssohn zu, um herauszufinden, was es mit den Gondelliedern auf sich hatte.
Mit aller Kraft versuchte ich, Gabrielas Anwesenheit auszublenden, und stöberte in den Regalen, als ginge es um mein Leben. Trotzdem bekam ich einen Heidenschreck, als Gabriela sich mir näherte wie ein graziler Schatten. Während ich hektisch die CDs durchging, sah ich aus dem Augenwinkel, dass sie mich mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht beobachtete.
Eigentlich wollte ich den genervten Kunden spielen, den man nicht in Ruhe stöbern lässt. Doch als wir uns Auge in Auge gegenüberstanden, kam mir etwas komplett anderes über die Lippen. Der Geist denkt, das Herz lenkt.
»Es tut mir leid wegen des Missverständnisses neulich. Ich dachte ...«
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie lächelnd. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Mehr als du ahnst, dachte ich. Aber ich musste mich ans Drehbuch halten.
»Ich bin auf der Suche nach einem Stück, das hier im Laden gespielt wurde«, sagte ich. »Ein Stück für Klavier, eins von den ›Liedern ohne Worte‹. Ich dachte, es hieße Venezianisches Gondellied , aber inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Welches von den Gondelliedern meinst du denn?«
»Es gibt mehrere?«, fragte ich, redlich bemüht, meinen Atem ruhig zu halten und mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
»Es gibt drei oder vier Romanzen von Mendelssohn, die so heißen.«
»Okay, dann würde ich diese Gondolieri alle gerne mit nach Hause nehmen«, versuchte ich zu scherzen. »Welche Aufnahme kannst du denn empfehlen?«
Gabriela wandte mir den Rücken zu und überließ mich dem Anblick ihrer wunderschönen schwarzen Locken, die beinahe bläulich schimmerten. Schließlich sagte sie: »Es gibt zwei sehr gute Interpretationen: die Komplettversion von Barenboim oder eine Auswahl von András Schiff.«
»Ich nehme die von Barenboim. Dann habe ich gleich alle Romanzen.«
»Die habe ich im Moment leider nicht da. Ich kann nur die von Schiff anbieten«, sagte sie und hielt mir eine CD mit dem Foto eines rosigen Mannes und der Aufschrift ›Lieder ohne Worte‹ hin.
Ich betrachtete die CD ein paar Sekunden und überlegte, was ich tun sollte. Einerseits wollte ich die Romanzen mit nach Hause nehmen, um wie Bukowski im Wasser meiner Tränen zu brennen und im Feuer meiner Leidenschaft zu ertrinken. Andererseits hätte ich dann keine Gelegenheit mehr, sie wiederzusehen.
»Ich nehme beide«, sagte ich spontan und nahm den rosigen Pianisten an mich. »Kannst du mir die Barenboim-CD bestellen?«
»Klar. In ein paar Tagen ist sie da, wir melden uns dann bei dir. Gibst du mir deine Telefonnummer?«
Ich diktierte sie
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