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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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ihr und war plötzlich von einem absurden Stolz erfüllt: Sie hatte meine Nummer! Zwar würde sie sie nur gebrauchen, um mich über meine Bestellung zu informieren, trotzdem war ich glücklich.
    »Bis in ein paar Tagen also«, sagte sie, lächelte ein letztes Mal und verschwand im Hinterzimmer.
    Das schien mir das Schönste, was ich seit Jahren gehörte hatte.
    »Bis dann«, erwiderte ich wie in Trance.

MONO NO AWARE
    »Es spielt keine Rolle«, murmelte ich vor mich hin, als ich mir in meiner Wohnung eine Tasse Kaffee einschenkte.
    »Genau das ist das Problem«, sagte ich zu Mishima, die mir aufmerksam lauschte, »es spielt keine Rolle, weil ich für sie gar nicht existiere. Ich würde Gabriela unter einer Million Frauen erkennen. Sie erkennt mich nicht einmal, wenn ich direkt vor ihr stehe. Habe ich mich so sehr verändert?«
    Nach dieser kleinen Ansprache ließ ich mich im letzten Abendlicht in meinen Sessel fallen. Mutlos betrachtete ich die Regale voller Bücher, die Musikanlage, die Poster mit Porträts von Brassaï, die ausgeschaltete Stehlampe ...
    Ich fühlte mich außerstande, die Mendelssohn-CD aufzulegen. Ich war wie verhext von dem mono no aware der Japaner – der Traurigkeit der Dinge –, einem Begriff, dessen Bedeutung mir zu meinem großen Bedauern immer klarer wurde.
    Mehrere Minuten saß ich im Dunkeln, bis ich mich dazu durchrang, die Lampe anzuschalten, eine Entscheidung, die Mishima mit einem Maunzen quittierte. Vondem kleinen Tischchen neben mir griff ich mir das Rheingold-Wörterbuch, um mich in meiner Melancholie noch weiter zu verlieren.
    Der Begriff wurde von Motoori Norinaga, einem ja panischen Dichter aus dem 18. Jahrhundert, geprägt. Er bezeichnet eine außergewöhnliche Sensibilität gegenüber den Dingen, eine Beziehung ohne Filter, in der der Betrachter mit dem Betrachteten verschmilzt. Wie der Liebende, der im Herzen seiner Geliebten lebt. Diese tiefe Erfahrung erzeugt eine Melancholie, die sich anfühlt, als sei die Welt genau darauf gegründet: auf Schönheit und Trauer. So heißt auch ein Roman von Kawabata, dem letzten japanischen Nobelpreisträger.
    Vielleicht ist alles Schöne traurig, weil es so flüchtig ist wie ein Schmetterlingskuss, dachte ich.
    Meiner selbst überdrüssig, klappte ich das Buch zu und ging in die Küche, um mich dem Abwasch zu widmen. Meine lyrischen Anwandlungen in letzter Zeit waren wirklich unerträglich. Während ich die Teller unter den warmen Wasserstrahl hielt, sah ich den Mond, wie er voll und prächtig am Himmel stand. Auf einmal hatte ich das Gefühl, er müsse sehr einsam sein da oben, so alleine. Grund genug, ihm einen Besuch abzustatten.
    Vielleicht hatte Valdemar am Ende recht damit, dass wir dort oben unsterblich sind. Aber wer will schon die Ewigkeit auf dem Mond verbringen?

SIDDHARTAS KERZEN
    Die abendliche Mondbetrachtung hatte anscheinend in mir über Nacht ihre Wirkung entfaltet, denn ich wachte auf mit der Euphorie eines Menschen, der alles für möglich hält. Was am Vortag meine Traurigkeit genährt hatte, gab nun Anlass zur Hoffnung. Ob ich dabei war, verrückt zu werden?
    Die Sonne hatte auch Mishima geweckt, die sich gähnend reckte und sich dann ihren morgendlichen Streckübungen widmete.
    Überzeugt davon, meines Glückes Schmied zu sein, sprang ich aus dem Bett. Es gab nichts zu befürchten, nicht einmal Mendelssohn. Ich legte die CD mit den Romanzen ein und holte die letzten Vorräte aus meiner Speisekammer heraus, um mir ein großzügiges Frühstück zu zaubern.
    Zu meiner großen Freude war es die Version von András Schiff, die ich bei meinem vorletzten Besuch im Laden gehört hatte. Gabrielas Bild erschien vor meinem inneren Auge, und ich gab mich den Klängen und den Träumen an meine Kindheitsliebe hin. Der erste Gondelschiffer brachte mir Gabrielas Lächeln, die Sommersprossen auf ihren Wangen, ihre wunderschönenAugen. Alles Schöne dieser Welt in einem einzigen Antlitz.
    Für einen außenstehenden Beobachter sah ich wo möglich aus wie ein armer Tropf, der an einem Samstagmorgen vor seinem einsamen Frühstück sitzt und vor sich hin träumt. Sicher, wenn man von Mishima absah, war ich genauso allein wie immer. Doch meine Einsamkeit kam mir inzwischen ziemlich bevölkert vor.
    Ich ließ noch einmal all die Stationen Revue passieren, die schließlich zu meiner verrückten Hoffnung geführt hatten: Teller Milch › Katze › Titus › Eisenbahnschiene › Gabriela › Café › Valdemar › Schubert › Mendelssohn

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