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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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auf. Mir blieben die Rechnung und die zwei Stunden, bis der Plattenladen wieder öffnen würde.
    Vertrieben von einer Gruppe hungriger Touristen, die beständig meinen Tisch umkreisten, stand ich auf, ohne ein rechtes Ziel vor Augen zu haben. Um den Menschenmassen aus dem Weg zu gehen, die sich die Ramblas hinunterschoben, tauchte ich tiefer ins Raval ein und streifte zwischen Telefonläden und pakistanischen Videotheken umher.
    Wie zufällig stand ich plötzlich vor dem Café Marsel la, einem ebenso magischen wie dekadenten Ort, in dem ich seit meiner Studentenzeit nicht mehr gewesen war. Mit seinen vielen Spiegeln an den Wänden und seinem Hauch von Boheme war es mein Lieblingscafé gewesen.
    Aus purer Nostalgie trat ich ein und stellte fest, dass sich in dem hohen Raum kaum etwas verändert hatte. Dieselben abgenutzten Spiegel, alte eingestaubte Weinflaschen, Hinweisschilder wie SINGEN VERBOTEN oder NACH VERZEHR TISCH RÄUMEN.
    Ich ließ mich an einem der zahlreichen freien Tischenieder und sah mich um. Das Marsella ist das älteste Café Barcelonas – es existiert schon seit 18 20. Zu seinen berühmten Gästen hatte einst Jean Genet gezählt, der sich als junger Bursche im Barrio Chino, das jetzt Raval oder auch Ravalstán heißt, prostituierte.
    Ein Kellner mit amerikanischem Akzent brachte mir meinen Kaffee und unterbrach meinen imaginären Spaziergang durch ein längst vergangenes Barcelona. Ich schaute auf die Uhr: halb vier. In einer knappen Stunde würde ich Gabriela wiedersehen. Allein der Gedanke daran verursachte mir kalte Schweißausbrüche.
    Als ich sie an diesem Mittag wiedergesehen hatte, hatte ich einen körperlichen Schmerz und zugleich eine schwindelerregende Leere gefühlt. Als sei ich kurz davor, in einen Abgrund zu stürzen, und sie mein letzter Halt. In dem Augenblick hatte ich geglaubt zu sterben, wenn ich auf sie verzichten müsste.
    Am Tisch mir gegenüber saß eine alte Trinkerin, die ihre Zigarette ohne Filter rauchte und mich mit mütterlicher Miene betrachtete. Sie hustete zwischen den einzelnen Zügen, und in ihren Augen sah ich den Gleichmut eines Menschen, der all seine Leidenschaften abgetötet hat und nun frei ist.
    In dem Moment brachte der Kellner ihr die Spezialität des Hauses: ein Glas verdünnten Absinth mit einem angezündeten Stück Zucker. Die Alte wandte den Blick von mir, um sich ganz auf das Schauspiel der Flammen zu konzentrieren. Die Flamme erlosch, und die Alte setzte das Glas mit dem warmen Alkohol an die Lippen.
    Mir schoss eine Zeile von Bukowski durch den Kopf: »Burning in Water – Drowning in Flame«.

CHINASKI & CO.
    Ich stürzte meinen Kaffee hinunter und beschloss, mir ein wenig die Beine zu vertreten, während ich überlegte, was ich zu Gabriela sagen sollte. Zunächst einmal musste ich mich wohl für unsere letzte Begegnung entschuldigen und mich wie ein normaler Kunde benehmen.
    Um das beklommene Gefühl zu vertreiben, dachte ich wieder an Charles Bukowski. Ich persönlich hatte den vulgären Abenteuern seines Alter Ego Chinaski nie viel abgewinnen können, doch die eine oder andere Anekdote über den Autor selbst fand ich recht unterhaltsam.
    Einmal, erzählte er, saß er während einer Zugfahrt an der Ostküste neben einem kleinen Jungen, der aufs Meer schaute und zu Bukowski sagte: »Das is nich schön.« Bukowski war erschüttert und dachte, dass der Kleine ein Genie war, denn bis dahin war ihm das nie aufgefallen. Von klein auf wird uns beigebracht, dass das Meer schön sei, ohne dass wir das für uns selbst entscheiden könnten.
    Schmunzelnd und diesem Gedanken nachhängend trottete ich die Straße entlang, als mich plötzlich jemand am Ärmel zog. Ich schreckte aus meinem Tagtraum auf und sah mich einem jungen, mit einer Dschellaba bekleideten Araber gegenüber. Er stand in einer Telefonzelle und hielt den Hörer hoch.
    »Hier ist noch Guthaben übrig«, sagte er.
    »Wie bitte?«
    »Es sind noch dreißig Cent übrig. Wenn ich den Hörer auflege, kassiert es die Telefónica, und ich will nicht, dass die das Geld kriegen. Los, ruf deine Freundin an.«
    Er drückte mir den Hörer in die Hand und lief pfeifend davon. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich zu bedanken. Da ich weder eine Freundin noch Freunde hatte, musste ich schnell nachdenken, wen ich anrufen könnte, damit die freundliche Geste des Arabers nicht einfach so verpuffte.
    Mir fiel ein, dass ich für den Fall, dass ich mit Titus sprechen musste, die Nummer des Krankenhauses notiert

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