Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Diese Aufmerksamkeit trägt dazu bei, dass die Dinge sich zu ihren Gunsten entwickeln.
Ich hielt inne, beeindruckt, all das aus dem Ärmel geschüttelt zu haben. Als ich den Text noch einmal las, hatte ich das Gefühl, diese Worte stammten gar nicht von mir, als wäre ich bloß ein Medium gewesen, durch das Francis Amalfi gesprochen hatte. Aber wer war eigentlich Francis Amalfi?
Mishima klopfte mit dem Schwanz auf den Teppich, als wollte sie mich wieder zur Arbeit antreiben. Ich überlegte, welche Themen ich noch aufgreifen könnte: die Fähigkeit der Katzen, sich zur rechten Zeit zu verstecken, ihre nahezu übernatürliche Intuition ...
Es war, als erteilte ich mir selbst eine Lektion, als sollte auch ich von nun an wachsam durchs Leben gehen. Ich überschlug die Woche, die vor mir lag, und begriff, dass so gut wie alles geschehen konnte. Das Geheimnis lag darin, die Augen offen zu halten und ohne Furcht zu springen, wenn der Moment gekommen war.
DIE SCHALE KNACKEN
Wegen der Prüfungen war mein Seminar für deutsche Literatur auf Montag früh verlegt worden. Auf dem Programm stand Hermann Hesse, genauer sein Roman Demian , den er ursprünglich unter dem Namen seines Protagonisten Emil Sinclair veröffentlicht hatte.
Während ich den verlassen daliegenden Patio de Letras durchschritt, las ich noch einmal das Motto, das dem Roman vorangestellt ist:
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
Beeindruckt von dieser furiosen Eröffnung, an die ich mich gar nicht mehr erinnerte, las ich mich auf der folgenden Seite fest, während ich die alten Treppen des Instituts hinaufstieg.
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann.
Das kannst du laut sagen, dachte ich bei mir und betrat den Seminarraum, wo mich eine Handvoll verschlafene Studenten erwartete.
Ich hängte meinen Mantel auf und begann ohne Um schweife und auf Deutsch ein paar Eckdaten zu Hermann Hesses Biografie zu nennen. Sohn einer Missionarsfamilie aus dem Schwarzwald, Ausbildung zum Antiquar, Anhänger des Buddhismus, Nobelpreis für Literatur 1946, den er aus Protest gegen das Dritte Reich nicht entgegennahm.
Schlecht verhohlenes Gähnen hier und da bedeutete mir, mich kurz zu fassen und lieber ein paar Anekdoten einzustreuen. Ich erzählte, dass Hesse niemals aufgehört hatte, die Briefe seiner Leser zu beantworten. Schätzungen zufolge muss der arme Mann mehr als dreißigtausend Briefe geschrieben haben, was ihn in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens wohl stark in Anspruch genommen hat und was zum Teil erklärt, weshalb seine literarische Produktion nach dem Steppenwolf so stark nachließ.
Nach dem biografischen Überblick verteilte ich die Referatsthemen zu Demian und ging dann näher auf eine Stelle in dem Roman ein, die mir besonders bedeutungsvoll scheint.
Emil Sinclair hat seinen Freund Max Demian aus den Augen verloren. Eines Nachts träumt Sinclair, Demian halte ein mit einem Vogel geschmücktes Wappen in der Hand. Im Traum erwacht der Vogel zum Leben und beginnt, Demians Eingeweide anzufressen. Unter dem Eindruck dieses nächtlichen Traums malt Sinclair den Vogel, so wie er ihm im Traum erschienen ist, und schickt die Zeichnung an die letzte Adresse, die er von dem altenFreund besitzt. Auf mysteriöse Weise kommt der Protagonist zu seiner Antwort, als er einen zusammengefalteten Zettel in einem seiner Schulbücher findet und sich ihm Demians Deutung des Traums offenbart:
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott.
An dieser Stelle meldete sich die Streberin des Kurses, die wie Hesse eine runde Brille trug.
»Diese Idee hat Hesse von Goethe geklaut.«
»Ach ja?«, antwortete ich, genervt von ihrem Ton.
»Hier steht es«, sagte sie und deutete auf einen deutsch sprachigen Lektürekommentar. »In den Tagebüchern, die Goethe während seiner Italienreise schrieb, spricht er bereits vom Aufbrechen der Schale.«
»Na gut, um mir eine Tortilla zu machen, habe ich auch schon das eine oder andere Ei aufgeschlagen. Dafür braucht man weder Goethe noch Hesse gelesen zu haben.«
Kaum hatte ich den Satz beendet, bereute ich ihn auch schon. Die Wangen
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