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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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zur Begrüßung auf die Wange küssen sollte. Da man im Allgemeinen etwas, das man sagt oder tut, viel eher bereut, als etwas, was man unterlässt, beschloss ich, mich zu setzen und erst einmal abzuwarten. Schüchtern begrüßte ich sie und vertiefte mich dann ebenfalls in die Karte. Da ich nicht allzu viel Ahnung von Tee hatte, bestellte ich einen Lady Grey, weil mir der Name gefiel.
    »Für mich das Gleiche, bitte«, sagte Gabriela zu derKellnerin, die sich erkundigte, ob wir auch gern Nonnengebäck hätten.
    »Im Moment nicht, danke«, antwortete ich, angespornt durch die Tatsache, dass sie dasselbe bestellt hatte wie ich.
    Nachdem wir die Bestellung aufgegeben hatten, saßen wir uns einige Minuten lang schweigend gegenüber. Mir fiel auf, dass Gabriela keine Ohrringe, dafür aber zwei Schmetterlingsspangen im Haar trug, die ihre Locken zusammenhielten. Einer war jadegrün und der andere pink mit blauem Schimmer.
    Sie hatte sich Schmetterlinge ins Haar gesteckt, ob wohl sie doch gar nichts von meiner Schmetterlingskuss-Erinnerung wusste! Jedenfalls wertete ich das als gutes Omen. Ich suchte noch vergebens nach einem möglichst unverfänglichen Gesprächseinstieg, da sagte Gabriela, die schon eine Weile ihre leere Tasse hin und her drehte: »Die Japaner sind echte Künstler, was ihre Tassen angeht. Und weißt du, womit sie sich die meiste Mühe geben?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Vielleicht mit dem Henkel?«
    »Japanische Tassen haben keinen Henkel.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe lange genug dort gelebt.«
    »Du hast in Japan gelebt?«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, beharrte sie und runzelte die Stirn.
    »Also, dann versuchen sie, jede Tasse mit möglichst kunstvollen, harmonisch-schlichten Ornamenten zu verzieren. Sozenmäßig.«
    »Nein, das ist es nicht«, sagte sie.
    »Dann bemühen sie sich wohl, die Tassen besonders rund zu machen.«
    »Auch nicht. Eine unregelmäßige Tasse kann ein wahres Kunstwerk sein.«
    »Ich gebe auf. Womit geben sie sich die meiste Mühe?«
    Gabriela drehte ihre leere Tasse um und klopfte mit dem Löffel auf den Tassenboden.
    »Mit der Unterseite«, erklärte sie, »mit dem, was man normalerweise gar nicht sieht. Und weißt du, warum?« »Keine Ahnung.«
    »Weil Gott dort hinschaut.«
    Sie warf mir ein schelmisches Lächeln zu, das mich vollends entwaffnete. Unsere Unterhaltung wirkte eher wie die von zwei Kindern als von zwei Erwachsenen. Ich fühlte mich auf wundersame Weise wohl bei dieser Art Gespräch.
    Unter normalen Umständen wäre ich mit Fragen auf sie losgeschossen, die mir weit dringender schienen, etwa: »Glaubst du wirklich an Gott?«, »Wo und wann hast du in Japan gelebt?«, »Warum sprechen wir hier über Teetassen statt über unser Leben? Macht man das nicht normalerweise so bei einem Date?«
    Doch ich wollte den magischen Auftakt nicht verderben, indem ich mich auf das übliche Drehbuch für Rendezvous beschränkte, das meist in einer grob zusammengefassten Lebensbeichte mit besonderem Augenmerk auf amourösen Misserfolgen besteht.
    Ich konnte Gabriela nicht einfach ein so prosaisches Gespräch aufzwängen. Gott sei Dank hatte ich durch mein Einsiedlertum ein paar ausgefallene Trümpfe in der Hand, die ich bei dieser Gelegenheit ziehen konnte.
    »Bestimmt haben sie ein Wort dafür«, sagte ich, als die Kellnerin den Tee brachte.
    »Was meinst du?«
    »Die Japaner müssen ein Wort für diese verborgene Schönheit haben, die nur Gott sehen kann. Und wenn nicht, sollten sie eins erfinden.«
    »Und warum glaubst du das? Hast du auch in Japan gelebt?«, erkundigte sie sich spöttisch, bevor sie in den heißen Tee pustete.
    »Das nicht, aber ich habe ein Wörterbuch mit unübersetzbaren Wörtern. Es gibt viele Begriffe, die nur im Ja panischen existieren. Mir scheint, die Japaner leben in einer ganz eigenen Welt, mit Codes, die außer ihnen niemand versteht.«
    »Zum Teil stimmt das«, antwortete Gabriela, und ihr Blick schien plötzlich ganz weit weg. Mit dem Zeigefinger wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
    Ich vermutete, dass sie am anderen Ende der Welt et was sehr Bitteres erlebt hatte. Zwar hatte ich keine Ahnung, was das sein konnte, klar war aber, dass es mehr gewesen sein musste als eine zerbrochene Liebe. Anscheinend hatte ich etwas berührt, woran sie nicht erinnert werden wollte, denn ehe ich etwas sagen konnte, nahm sie das Gespräch wieder auf: »Dieses Wörterbuch ist sicher interessant. Ich hätte aber lieber

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