Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
KATRINEHOLM, OKTOBER 1968
Oben auf dem Hügel zwischen hochgewachsenen Kiefern thront das alte braune Haus. Im Sommer spenden die Kiefern den Kindern Schatten, wenn sie um das Haus herum spielen, das die Vorschule des Ortes beherbergt. Jetzt im Herbst wirken sie bedrohlich, wie Wachsoldaten, die den Auftrag haben, das Haus gegen die Winterkälte und andere ungebetene Gäste zu verteidigen. Der erste, nasse Schnee hat sich wie ein Lappen über die Landschaft gelegt. Das einzige Geräusch, das die fast vollkommene Stille an diesem Ort von Zeit zu Zeit durchbricht, ist das weit entfernte Bellen eines Hundes.
Bis die Tür des Hauses sich plötzlich öffnet. Kinder stürmen ins Freie. Lärmende Kinder in neuen, tadellosen Kleidern oder in alten, zerschlissenen. Manche Kinder groß, andere klein, dünne und dicke, blonde und dunkelhaarige. Kinder mit Zöpfen, Sommersprossen, Brillen oder Mützen. Manche schlendern langsam aus dem Gebäude, andere sind schon vorausgerannt, einige von ihnen sind in aufgeregte Gespräche verwickelt, während wieder andere still und in sich gekehrt wirken.
Die Tür fällt hinter den Kindern ins Schloss, um gleich darauf noch einmal geöffnet zu werden. Ein kleines Mädchen mit weißer Pelzmütze und rot karierter Steppjacke verlässt die Schule, gefolgt von einem Jungen. Dunkelblaue Steppjacke, Halstuch und die obligatorische KSK -Mütze in den Vereinsfarben Rot-Weiß-Schwarz. Jeder in diesem Teil der Stadt ist KSK -Fan. Die beiden sprechen nicht miteinander. Das Mädchen, Katarina, beeilt sich, den Hang hinunterzukommen, um an das große schmiedeeiserne Tor zu gelangen. Es kostet sie Kraft, das Tor weit genug zu öffnen, um durch den Spalt hinausschlüpfen zu können, bevor es krachend wieder ins Schloss fällt. Thomas, der Junge, erreicht das Tor kurz darauf, öffnet es ebenso umständlich und zwängt sich hindurch.
Einen Augenblick bleibt er stehen und holt tief Luft, denn dort drüben auf dem Bürgersteig bestätigen sich seine schlimmsten Befürchtungen. Sämtliche Kinder haben sich an der gegenüberliegenden Straßenecke zusammengerottet. Ruhig beobachtet er, wie Katarina ohne wahrnehmbares Zögern die Straße überquert. Thomas braucht nicht lange, um zu entscheiden, dass er ihr nicht folgen, sondern den Umweg linksherum nehmen wird. Er hat sich erst ein paar Schritte entfernt, als sie sich bereits auf das Mädchen geworfen haben. Ann-Kristin mit ihrem ewigen Grinsen und dem gemeinen Glitzern in den Augen reißt Katarina die Mütze vom Kopf und wirft sie unter dem Johlen und Lachen der anderen Kinder zu Hans hinüber, zu König Hans.
Thomas hält inne und überlegt, ob er Katarina nicht helfen sollte. Noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hat, haben sie ihn entdeckt. Auf ein Signal von Hans hin jagen die Eifrigsten über die Straße und stürzen sich auf Thomas. Die übrigen Kinder folgen ihnen wie blutrünstige Hunde. Auf der anderen Straßenseite bleibt eine verwunderte und sichtbar erleichterte Katarina zurück. Dieses Mal wird es nicht sie treffen. Sie bückt sich, um ihre nicht mehr ganz so weiße Pelzmütze aufzuheben und aufzusetzen. Dann überquert auch sie die Straße, um das Schauspiel aus nächster Nähe zu beobachten.
Woher stammt nur dieser Erfindungsreichtum? Und dieses enge Band zwischen einundzwanzig, vielleicht zweiundzwanzig dieser dreiundzwanzig Kinder? Wie gelangt ein Junge zu solcher Autorität, dass er zum wortlos anerkannten Anführer wird, der die eine Hälfte dieser Kinder dazu bringt, sich wie ein Mann urplötzlich und voller Enthusiasmus der Aufgabe zu widmen, einen verängstigten kleinen Jungen mit Springseilen und Halstüchern an einen Laternenpfahl zu fesseln, während die andere Hälfte Steine sammelt, um ihn damit zu bewerfen?
Vollkommen hilflos ist Thomas, wie er da auf dem nassen, kalten Asphalt sitzt, unfähig, sich zu wehren oder auch nur zu schreien. Stumm schaut er seine Klassenkameraden an. Die Steine treffen ihn am Kopf, im Gesicht, überall am Körper. Ein Junge steht neben ihm und schlägt seinen Kopf wieder und wieder gegen den Laternenpfahl. Ein anderer benutzt ein übrig gebliebenes Springseil als Peitsche.
Einige Kinder stehen nur herum und lachen, andere unterhalten sich flüsternd mit einem herablassenden Ausdruck in ihren kleinen Gesichtern. Manche schauen völlig unbewegt zu. Auch Katarina steht dort. Jetzt gehört sie dazu – zu den anderen.
Irgendwann im Laufe der Misshandlung kommt auch die Lehrerin vorbei. Sie
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