Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
nicht anders verdient.
Als ich die endlosen Klinikflure entlangwanderte, wurde mir klar, dass ich Titus beinahe einen ganzen Monat lang nicht besucht hatte, und ich schämte mich sogleich zutiefst. Zwar hatten wir mehrmals in der Woche telefoniert, aber das war nicht genug. Schließlich hatte ereinen maßgeblichen Anteil an all den Veränderungen in meinem Leben.
Vielleicht lag es daran, dass ich ihn so lange nicht gesehen hatte, jedenfalls kam er mir sehr blass und ausgezehrt vor. Sein kleiner, kahler Kopf versank im Kissen und drohte jeden Augenblick darin zu verschwinden.
Mit gesenktem Kopf setzte ich mich neben das Bett, während ein Pfleger Titus’ Zimmergenossen, einen Mann mittleren Alters mit schrecklichem Husten, aus dem Raum schob.
»Ich hätte mich mehr um Sie kümmern sollen«, sagte ich als Einleitung. Das Leitmotiv dieses Tages lautete: »Ich fühle mich schuldig.«
»Sei still, ja? Ich glaube, ich habe nicht mehr lange zu leben, also hör mir zu. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«
Beklommen rückte ich noch näher an ihn heran. Seine Stimme war so schwach, dass ich ihn kaum hören konnte.
»Das Krankenhaus ist die Hölle, Samuel. Aber die Hölle lehrt einen die wichtigsten Dinge im Leben.«
Ich wollte ihn von diesem düsteren Thema abbringen und wechselte schnell das Thema in der Hoffnung, den Alten etwas abzulenken.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Erinnern Sie sich an den etwas wunderlichen Physiker, von dem ich Ihnen erzählt habe?«
»Valdemar.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis. Also, neulich sagte er, sein Leben sei nur ein Traum und in Wirklichkeit sei er tot. Vielleicht hat er recht und wir sind alle tot. Und vielleicht ist unser Leben wirklich nur ein Traum. Was ich sagen will ... Na ja, er meinte, nichts von alledem umuns sei real, und deswegen müssten wir uns auch keine Sorgen machen. Auch Sie nicht, selbst wenn es Ihnen jetzt nicht gut geht.«
Titus strich sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. Er wirkte ganz ruhig. Schließlich räusperte er sich und sagte langsam: »Dieser verdammte Valdemar scheint ziemlich klug zu sein. Wir können nicht sicher sein, dass diese Welt existiert. Nenn es Traum, Sinnestäuschung oder wie auch immer du willst. Vielleicht sind wir nur ein Funken Bewusstsein in der Finsternis des unendlichen Universums. Aber da die Zeit vor uns und nach uns unendlich ist, können wir mathematisch gesehen nicht mit Sicherheit sagen, dass dieser Funke jemals entstanden ist. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
»Ungefähr. Aber was wollten Sie mir denn nun so Wichtiges mitteilen?«
»Mein Gott, ich bin doch dabei! Gedulde dich!«
Titus keuchte und schnappte nach Luft, seine Lunge schien laut zu rasseln. Einen Moment lang fürchtete ich, er würde ersticken, und wollte die Krankenschwester rufen. Doch er hielt mich am Arm fest. Nachdem er dreimal tief durchgeatmet hatte, kehrte wieder ein wenig Farbe in sein Gesicht zurück.
»Strengen Sie sich nicht unnötig an«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Lassen Sie sich Zeit. Ich habe nichts zu versäumen.«
»Aber ich! Darum tu mir den Gefallen und unterbrich mich nicht.«
Ich nickte und faltete die Hände wie ein braver Klosterschüler. Als er zu sprechen anhob, begriff ich, dass Titus diese Worte schon länger für mich vorbereitet hatte; eine Art Abschiedsbotschaft.
»Wir leben zu weit entfernt von den äußeren Galaxien. Niemals werden wir dorthin gelangen. Und wir sind auch zu weit entfernt vom Quantenuniversum, um es zu verstehen. Niemals werden wir die letzte Schwelle der Materie überschreiten. Und wenn wir es täten, würden wir feststellen, dass nichts existiert, wie Valdemar sagt. Um die Materie im Innersten zu begreifen, kann man sie sich nicht einfach nur anschauen und damit hat sich’s dann! Das ist absurd. Was ich sagen will, ist, dass wir niemals etwas wissen werden, weil es wahrscheinlich keine Art von echtem, unumstößlichen Wissen gibt. Wir leben in einer Welt der Gefühle, das ist alles, was es gibt. Denk immer daran, Samuel: Du darfst niemals deine Gefühle und Empfindungen gering schätzen, denn sie sind alles, worauf du dich verlassen kannst.«
Ich war beeindruckt von seinen Worten und musste an den Satz von Nasreddin denken: Mögen die, die es wissen, es denen erzählen, die es nicht wissen.
»Jetzt geh und komm nicht mehr wieder«, sagte er schließlich.
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich beunruhigt.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, als würde meine
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