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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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es war noch nicht einmal sieben, als es unten an der Haustür klingelte, lange und penetrant; jemand verlangte dringend Einlass. Die letzte Szene eines Traums bekam mein Bewusstsein gerade noch zu fassen: Valdemar ging, Mishima folgend, mit dem Manuskript in der Hand den Flur meiner Wohnung entlang. Ein zweites Klingeln unterbrach den Traum endgültig, und ich erfuhr nicht mehr, wohin Mishima Valdemar geführt hatte. Es scheint, er ist vom Mond zurück, dachte ich, während ich verschlafen aus dem Bett stieg.
    Die Stimme, die aus dem Hörer der Sprechanlage zu mir hoch drang, versetzte mich dann aber doch in Erstaunen.
    »Hallo Samuel ...«
    Hatte ich richtig gehört? Es konnte doch nicht? Titus? Es war seine Stimme! Ich hielt mir noch einmal den Hörer ans Ohr. Es war der alte Redakteur höchstpersönlich, und er schien ziemlich ungeduldig, denn jetzt donnerte er: »Nun mach endlich auf, Junge, komm runter und hilf mir!«
    Wie ein Kind, das seinen Vater nach einer langen Reise endlich wiedersieht, flog ich die Treppe hinunter und warf mich Titus in die Arme, der, wenngleich er auch verärgert tat, sichtlich glücklich war angesichts meines Überschwangs.
    »Du hattest doch gesagt, du würdest sterben«, erinnerte ich ihn. Vor lauter Glück bemerkte ich gar nicht, dass ich ihn plötzlich duzte.
    »Sonst hättest du mir nicht richtig zugehört. Außer dem habe ich nichts gesagt, was nicht wahr wäre. Wir alle beginnen zu sterben, sobald wir geboren werden. Aber auf diesem Weg gibt es eben viele Wiedergeburten.«
    »Dann bist du also geheilt?«, fragte ich euphorisch.
    »Niemand ist je von etwas geheilt, und erst recht nicht in meinem Alter. Aber man könnte sagen, der Tod hat den Zug verpasst und kommt ein andermal wieder vorbei.«

OFFENBARUNGEN
    Mir schwante Seltsames. Valdemars sonderbares Verschwinden und Titus’ Rückkehr in die Welt der Lebenden waren nur Symptome für größere Ereignisse.
    Offenbar war Valdemar gegangen, damit Titus kommen konnte – obwohl sie sich ja gar nicht kannten. Ich würde jetzt einige Erklärungen abgeben müssen, zum Beispiel, warum in seiner Küche ein Teleskop stand, und hatte es eilig, den Alten in seine Wohnung zu begleiten. Ich kam mir vor wie ein Reiseführer, der bei einer Stadtrundfahrt rechts und links auf Veränderungen im Stadtbild hinweist.
    Titus schienen meine Erläuterungen allerdings nicht allzu sehr zu interessieren, denn als ich ihn auf das Gerät in seiner Küche hinwies, sagte er nur: »Ja, ich sehe das Teleskop auch. Ich bin nicht blind, weißt du?«
    »Und es überrascht Sie nicht, dass das Ding hier steht?«
    »Valdemar hat mich gefragt, ob er es hier aufstellen darf, und ich habe es ihm erlaubt. Lassen wir es also, wo es ist.«
    Ich verstand kein Wort mehr.
    »Sie meinen, er hat Sie gefragt? Wie denn? Kennen Sie ihn?«
    »Wir haben fast jeden Abend telefoniert, nachdem er einmal ans Telefon gegangen war, als ich aus dem Krankenhaus anrief.«
    Verblüfft fragte ich mich, warum Valdemar in einer fremden Wohnung das Telefon abnahm, zumal wenn er untergetaucht war. Die einzig plausible Erklärung war, dass er bei dem ersten Anruf gedacht hatte, ich sei es, der von unten anrief.
    »Er erläuterte mir in groben Zügen seine Situation und bat mich, nicht böse zu sein, dass du ihm die Wohnung überlassen hattest«, sagte er. »Ich habe ihm dann gesagt, dass er so lange bleiben kann, wie er will.«
    »Und offenbar haben Valdemar und Sie sich dann am Telefon angefreundet. Warum haben Sie mir davon nichts erzählt?«
    »Ich dachte, du hättest schon genug um die Ohren. Ich hatte hier oben angerufen, weil ich dachte, du sitzt am Schreibtisch und mühst dich mit dem Buch ab. Von Valdemar habe ich dann erfahren, dass du keinen Finger krumm gemacht hast.«
    »Das hat er gesagt?«, fragte ich betreten.
    »Na ja, im Grunde hat er versucht, dich zu entschuldigen. Er meinte, du hättest zwar nichts gesagt, aber es ginge dir wohl nicht so gut. Dieser Mann versteht mehr, als man glaubt.«
    »Und wo ist er jetzt?«, fragte ich. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
    »Woher soll ich das wissen! Gestern habe ich ihm gesagt, ich käme heute Morgen, er könne aber ruhig bleiben. Ich dachte mir allerdings schon, dass er sich verkrümeln würde. Valdemar ist ein wahres Goldstück: Er tut alles, um niemandem zur Last zu fallen.«

SERENITAS
    Es gibt Leben, in denen passiert zwischen Geburt und Tod überhaupt nichts Bemerkenswertes, und Tage, die reichen für ein ganzes Leben, weil man

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