Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
eigentlich geschlossen, aber meinetwegen, weil Sie Stammgast sind«, sagte er und entkorkte eine neue Flasche. Er füllte mein Glas und zog sich anschließend in die Küche zurück, von wo die Radionachrichten herüberklangen.
Allein am Tresen, warf ich, während ich an meinem Wein nippte, einen Blick in die Zeitung des Tages. Auf der Titelseite war ein großes Foto, das den Mond über den Dächern von Barcelona zeigte. Womöglich war der Weltuntergang angekündigt worden und ich hatte es nicht mitbekommen. Lebte ich schon auf dem Mond?
Bevor ich den Artikel lesen konnte, kam ein Mann in den Laden geschlüpft, der mir bekannt vorkam. Es war der Rothaarige mit dem schwarzen Anzug, der mit den siebzehn Minuten. Die Nacht versprach immer interessanter zu werden.
»Wir haben geschlossen!«, brüllte der Kellner aus der Küche.
»Er ist auch Stammgast«, schaltete ich mich zu seiner Verteidigung ein.
Das Letzte, was ich auf dieser Welt erledigen würde, sollte es also sein, noch einmal die Zeit zu stoppen, die sich der Rothaarige an der Theke aufhielt.
Der Kellner fluchte ein paarmal, bevor er aus seinem Versteck kam, um ein Glas Bier auszuschenken.
»In fünfzehn Minuten mache ich endgültig zu«, knurrte er.
»Geht es nicht ein kleines bisschen länger?«, fragte ich, an die magische Zahl denkend.
Als Antwort erhielt ich einen weiteren feindseligen Blick. Dann verschwand er wieder und stellte das Radio lauter. Es lief gerade eine Diskussionssendung mit verschiedenen Wissenschaftlern. Ob Valdemar unter ihnen war?
Ich schaute auf meine Uhr: zehn nach eins.
Der Rothaarige mit seinem Bier und ich mit meinem Glas Wein. Zwei einsame Männer in einer geschlossenen Bar. Wenn dies ein Hollywooddrehbuch gewesen wäre, hätten wir jetzt ein tiefes und melancholisches Gespräch anfangen müssen. Zwei Fremde, die sich in der Einsamkeit der Bar Vertraulichkeiten erzählen, wie auf einem Bild von Edward Hopper.
Stattdessen kontrollierte ich mit einem Auge den Minutenzeiger meiner Armbanduhr, während das andere sich in die Lektüre des Artikels vertiefte.
MONDTÄUSCHUNG IM WINTER. Wissenschaftler nicht einig über Ursachen des Phänomens.
Agenturmeldung . Wie die NASA in einer Presseerklärung mitteilte, wird heute Nacht ein Vollmond von ungewöhnlicher Größe zu sehen sein. Es handelt sich dabei um eine optische Täuschung, die die Fachleute als »Mondtäuschung« oder, etwas technischer, auch als »Apparent Distance Hypothesis« bezeichnen.
Es ist nicht genau bekannt, worauf dieser optische Effekt, der normalerweise nur im Sommer auftritt, zurückzuführen ist.
Die optische Täuschung hängt jedoch ausschließlich mit der Perspektive des Betrachters zusammen und kann nur vom menschlichen Auge erfasst werden und nicht etwa von einer Fotokamera. Hierzu schlägt die NASA folgendes Experiment vor: Betrachtet man den Mond durch ein Loch in einem Stück Papier und schaltet damit die Vergleichsobjekte im Blickfeld aus, verschwindet der Täuschungseffekt, und der Mond erscheint wieder normal groß.
Geradezu verärgert faltete ich die Zeitung zusammen. Was für eine Enttäuschung. Ich hatte mich schon darauf gefreut, meinen gänzlich waffenlosen Kampf gegen das Leben endlich einstellen zu können.
Der Weltuntergang wird also warten müssen, dachte ich, während ich ein weiteres Mal auf die Uhr schaute: ein Uhr siebenundzwanzig. Just in dem Augenblick legte der Rothaarige eine Münze auf den Tresen, bückte sich geschickt unter der Jalousie hindurch und schlüpfte auf die Straße.
Plötzlich spürte ich das dringende Bedürfnis ihm zu folgen, und ich war zu erschöpft, um mich diesem Impuls zu widersetzen. Ungeachtet der späten Stunde ging ich ihm hinterher; der riesige, gespenstische Mond schwebte über unseren Köpfen.
DER FAHRSTUHL
Der schwarz gekleidete junge Mann überquerte eilig die Carrer Pelai, ging weiter bis zur Avinguda Portal de l’Àngel, wo er dann rechts in Richtung Kathedrale abbog.
Ich folgte ihm mit einigem Abstand wie ein professioneller Detektiv, der einen kniffligen Fall zu lösen sucht. In Wahrheit versuchte ich mit dieser Verfolgung den Schmerz über den Verlust von Gabriela zu vergessen. Alle großen Detektive haben eine schmerzhafte Vergangenheit, die sie hinter sich lassen wollen. Und die Gefahr oder vielmehr das Herumschnüffeln in fremden Leben ist das beste Betäubungsmittel.
Der Siebzehn-Minuten-Mann war an der Kathedrale angelangt, auf deren Turmspitze der Mond aufgespießt
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