Samuraisommer
glänzte. Es hing ihr etwas ins Gesicht.
„Hallo“, sagte ich.
Sie nickte und strich sich das Haar aus der Stirn. Ich drehte mich um,
um festzustellen, ob uns nicht doch jemand sah, aber inzwischen war der Platz
fast leer. Auch die beiden Kleinen auf dem Karussell waren verschwunden.
„Wie geht's“?“, fragte ich.
„Na ja“, antwortete sie.
Das war alles. Es war vermutlich das erste Mal, dass ich sie etwas
sagen hörte.
Plötzlich sprang ein Fisch im Schilf auf der anderen Seite der Bucht.
Es klang wie ein Kanonenschuss.
„Das war wahrscheinlich der alte Hecht“, sagte ich.
„Glaubst du?“
„Angelst du?“, fragte ich.
„Ich hab keine Angel“, sagte sie.
„Die Rute kann man sich selber schneiden. Ich hab ein gutes Messer.“
Ich meinte mein Fahrtenmesser, nicht mein kurzes Schwert, mein
Wakizashi.
„Man braucht doch auch Schnur und Haken“, sagte sie.
„Hab ich. Und auch einen Schwimmer.“
„Du hast wohl alles“, sagte sie und sprang vom Baum.
„Ich spare für eine Wurfangel“, sagte ich. „So eine fehlt mir noch.
Ich will mir eine Ambassador Gold kaufen.“
„Das klingt teuer.“
„Es ist die beste.“
Kerstin nickte. Ich glaube, sie hat es verstanden. Jetzt stand sie
neben mir, einen Meter von mir entfernt. Sie war ungefähr so alt wie ich, aber
ein bisschen größer. Sie wirkte stark. Vermutlich käme sie gut zurecht als
Samuraimädchen. Vielleicht würde sie sogar einen hohen Rang haben.
Die Frauen der Samurai hatten das Kommando über die gewöhnlichen
Soldaten, wenn die Samurai im Kampf waren. Einige Samuraifrauen waren
ausgebildete Krieger und beherrschten die Kunst der Selbstverteidigung. Einmal
im sechzehnten Jahrhundert war eine Samuraifrau auf das Dach ihres Schlosses
gestiegen, um feindliche Soldaten auszuspionieren, die davor ihr Lager
aufgeschlagen hatten, danach zeichnete sie mit ihrem Lippenstift einen Plan vom
Lager.
Kerstin hatte ihre Lippen nicht geschminkt wie zum Beispiel Mutter.
Ich roch immer den Lippenstift, wenn Mutter mich zu umarmen versuchte.
„Soll ich dir eine Angel schneiden?“, fragte ich. Ich weiß nicht,
warum ich das fragte. Ich hatte nicht vorgehabt, das zu sagen.
„Wann“?“
„Tja ... morgen vielleicht?“
„Draußen im Wald?“
„Ja, klar.“
„Ich weiß nicht“, sagte sie.
Sie sah aus, als hielte sie den Wald für gefährlich. Wahrscheinlich
wusste sie nicht, dass der Wald ein Ort war, wo man immer sicher sein konnte.
Das glaubte ich jedenfalls.
Aber ich habe mich getäuscht.
„Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst“, sagte ich.
„Hast du eine bestimmte Stelle?“, fragte sie. „Im
Wald?“ Sie zeigte zu dem Wald hinter der Bucht, als ob ich nicht wüsste, wie
ein Wald aussieht.
„Wir haben ein Schloss“, sagte ich.
Jetzt hatte ich es verraten. Es war ein Geheimnis, das auf keinen Fall
verraten werden durfte. Zuallerletzt einem Mädchen. Die Worte waren mir
herausgerutscht, ehe ich nachdenken konnte.
„Was für ein Schloss“?“
Ich antwortete nicht.
„Seid ihr mehrere?“
Ich nickte. Noch einmal wollte ich mich nicht verplappern.
„Was ist das denn für ein Schloss“?“
„Das ... kann ich nicht sagen.“
„Warum nicht“?“
„Weil es ein Geheimnis ist.“
„Dann hättest du es mir wahrscheinlich gar nicht erzählen dürfen“?“
Sie sah mich an und lächelte. Das Mädchen war klug. Bei ihr musste ich
aufpassen.
„Manchmal rede ich zu viel“, sagte ich.
„Darf ich es sehen?“, fragte sie. „Das Schloss 1 ?“
Ich antwortete nicht sofort. Diesmal dachte ich vorher nach. Ich hatte
ja schon gesagt, dass ich sie mitnehmen würde in den Wald. Und der Wald war das
Schloss, gewissermaßen.
„Okay“, sagte ich.
Das sollte mir später Leid tun.
3
Es war wieder Abend. Wir hatten uns gerade unten am See gewaschen. Von
dem Wasser wurde man schmutziger als man vorher gewesen war. Wenn man die Hand
hineintauchte, blieb hinterher ein brauner Film auf der Haut zurück, fast wie
eine zweite Haut. Das war wie ein Schutz gegen die Sonne. In diesem Sommer
schien die Sonne heiß. Es hieß, das sei der heißeste Sommer seit Jahren.
Beim Abendessen übergab sich ein Mädchen. Das war gut gemacht. Ich
glaub, sie hieß Lena. Das Essen war so eklig, dass wir eigentlich alle vierzig
nach jeder Mahlzeit hätten kotzen müssen. Aber das hatte sich bisher noch keiner
getraut. Lena saß am selben langen Tisch wie ich, und plötzlich beugte sie sich
vor und übergab sich. So was
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