Sancha ... : Das Tor der Myrrhe : Historischer Roman (German Edition)
anderen darüber dachten. Heute war sein Tag!
Die mit farbigen Quer- und Längsstreifen unterteilten Wände erzählten bewegende Geschichten. Während Hagelstein sich absonderte, führte Damian die Gräfin und die Freunde von Freske zu Freske, leise beschreibend und mitunter zitierend. Er konnte es kaum fassen, dass die Bilder seiner Fantasie plötzlich Gestalt annahmen: Da waren die Engel, mit einem roten und einem schwarzen Flügel, die Gewänder wie in Spiralen aufgewickelt; Christus, thronend und umgeben vom Sternenkranz; das gläserne, mit Feuer durchsetzte Meer; die sieben goldenen Schalen voll vom Zorn Gottes ... „Seht nur, Herrin!“, stieß er hervor. „Der erste Engel gießt seine Schale auf die Köpfe der Menschen aus und sie krümmen sich in ihren Gebresten. Wie sie schreien und die Hände zum Himmel recken! Und dort oben, das Lamm und das große Buch mit den sieben Siegeln!“
Damian kam kaum hinterher, so schnell eilte die Gräfin von Bild zu Bild. Beim „Thron Gottes“, umgeben vom Regenbogen und den vierundzwanzig Thronen für die Ältesten, hielt sie länger inne und bekreuzigte sich.
„Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel“, zitierte Damian vor dem nächsten Wandabschnitt. „Ein Weib, mit der Sonne bekleidet, unter ihren Füßen der Mond und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und dort der rote Drache mit den sieben Häuptern und sieben Kronen. Seht nur, wie sein Schwanz den dritten Teil der Sterne des Himmels hinwegfegt und sie auf die Erde wirft!“
Als er den Engel entdeckte, der auf dem Meer und auf der Erde stand - dieses Mal jedoch nicht aus Stein wie in Montpellier, sondern in ein glutrotes Gewand aus Farbe gehüllt, verstummte er für einen Augenblick. Dann deutete er auf das Buch, das der Engel in Händen hielt. Olivier trat heran. Neugierig stellte er sich auf die Zehenspitzen. Drei kleine Worte waren zu lesen:
„ Os tisa tisîn ...“ buchstabierte Olivier. „Das ist genauso sonderbar wie das Rätsel auf dem Steinernen Buch. Weißt du was damit anzufangen?“
Damian zögerte erst, dann jedoch, auch weil Gala ihn erwartungsvoll ansah, nickte er. „Bruder Bernard hat es mir seinerzeit erklärt. Es handelt sich um die Verschlüsselung für die Zahl 99 - übersetzt heißt es jedoch schlicht ´Amen, so ist es`.“
Gala sah bewundernd zu ihm hoch, ja, selbst die Gräfin zeigte sich beeindruckt. Einzig Hagelstein, der die ganze Zeit über - offenbar gelangweilt - mit dem Fuß die Spreu zur Seite geschoben hatte, merkte spöttisch an, dass der Ritter von Rocaberti wohl am liebsten seine eigenen Weisheiten lehrte. „Überhaupt“, fuhr er fort, die Welt ist falsch zu jeder Zeit, der eine stirbt, der andre freit.“
Der Kopf der Gräfin fuhr herum. „Schweigt“, herrschte sie ihn an, „kehrt vor Eurer eigenen Tür, Herr von Hagelstein!“
Falk verbeugte sich übertrieben und scharrte wortlos weiter.
Damian bemerkte, dass Olivier und Gala so entgeistert waren wie er selbst. Was war vorgefallen zwischen der Herrin und ihrem Narren? Gleich nach ihrer Ankunft hatte sie ihn zu einem Spaziergang aufgefordert. Sie müsse mit ihm reden, unter vier Augen, hatte sie gesagt und später war auch noch der hiesige Bayle gekommen, um mit ihm ...
„Dieses Gemälde kommt selbst mir bekannt vor“, sagte die Gräfin spröde und wies auf den nächsten Abschnitt.
Als Damian das Tier erblickte, das einem Panther glich und dessen Füße wie Bärenfüße waren und der Rachen wie eines Löwen Rachen, überkam ihn ein Schauer. „Glaubt Ihr mir jetzt, Doña Sancha?“, fragte er leise.
„Du hast immer an diese Geschichte geglaubt, Junge. Du bist dir treu geblieben, das ehrt dich. Dennoch hättest du dich auch täuschen können. Meine Zweifel und Vorsicht waren durchaus angebracht.“ Sie rieb sich die Hände. „Aber wenn du uns jetzt zum Tor der Myrrhe führen wolltest, wären wir dir dankbar. Die Kälte bringt allmählich mein Blut zum Erstarren!“
Unwillkürlich zog Damian den Kopf ein. Die Fackel in seiner Hand knisterte und stank.
„So antworte der Herrin“, flüsterte Gala an seiner Seite, die hübsche Nase rotgefroren. „Es ist wirklich eiskalt hier drinnen.“
Er schöpfte tief Luft. „Doña Sancha“, sagte er mit fester Stimme, „ich weiß nicht, wo sich das Tor befindet. Ich habe mit einer Gruft gerechnet oder zumindest mit einem geheimen Zugang zu einem Raum, vielleicht unterhalb des Altars. Aber hier ist nichts. Es tut mir leid.“
„Vorschnell
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