Sanctus
hatte. Hinter ihm hallte eine immer lauter werdende Kakofonie verwirrter Stimmen durch die Zitadelle: Der eine rief nach Lampen, der andere nach Hilfe, und wieder andere wollten Schläuche haben, um das Feuer zu löschen. Gabriel konnte die Panik förmlich spüren. Nichts versetzte die Menschen mehr in Angst als der Geruch von Rauch.
Gabriel hielt die Waffe nach vorne gerichtet und schob den PDA mit der verletzten Hand weiter in den Gang hinein. Dann tastete er nach dem Knopf, um das Display anzuschalten. Er fand ihn, und das kalte Licht des PDA erhellte den Gang. Der Wächter war nicht an der Tür. Er hatte sich links davon niedergekauert und die Waffe in den Gang gerichtet. Er schoss zweimal und zielte dabei hoch über die Lichtquelle – wahrscheinlich vermutete er dort den Kopf –, und der Knall hallte ohrenbetäubend in dem Gang wider.
Gabriel schoss mit seiner eigenen schallgedämpften Waffe und sah den Wächter zucken und gegen die Tür sinken. Seine Waffe fiel zu Boden. Gabriel sprang vor und trat die Pistole weg. Dann fühlte er den Puls des Mannes, richtete dabei aber weiterhin die Waffe auf ihn – nur für den Fall, dass er einen fand. Doch der Wächter war tot. Gabriel tastete den Mann ab, bis er fand, wonach er suchte.
Er rutschte wieder zurück, hob seinen PDA auf und richtete das Licht des Displays auf die mit Metall verstärkte Tür. Das Schloss befand sich in der Mitte. Gabriel steckte den Schlüssel hinein, den er dem Wächter abgenommen hatte, drehte ihn, lehnte sich gegen die Tür und sah eine Wendeltreppe, die hoch in den Berg hinaufführte.
K APITEL 140
Samuels Leichnam verschwand aus Livs Sichtfeld, als sie brutal in die Höhe und herumgerissen wurde. Vor ihr stand eine wahrhaft groteske Gestalt. Der Mann starrte sie an. Graue Augen funkelten über einem dichten Bart, und sein Oberkörper schimmerte von Blut, das aus frischen und vertrauten Wunden quoll. »Das sind die Zeichen unserer Hingabe«, sagte der Abt und folgte ihrem Blick. »Dein Bruder hat sie auch getragen; doch er vermochte unser Geheimnis nicht zu ertragen.«
Der Kopf des Abts zuckte zum dunkleren Ende der Kammer, und Liv wurde ebenfalls in diese Richtung umgedreht. Sie versuchte den Kopf nach rechts zu drehen, um noch einen Blick auf ihren Bruder zu erhaschen, doch eine Hand packte sie an den Haaren und zwang ihr Gesicht nach vorne. »Such in der Dunkelheit«, befahl der Abt. »Sieh selbst.«
Und Liv suchte.
Sie sah nichts außer Schatten. Doch dann schien eine Brise durch ihren Körper zu wehen, als etwas im Zwielicht Gestalt annahm.
Es war die Form des Tau, mindestens so groß wie sie. Während ihre Augen der Dunkelheit immer mehr Sinn entnahmen, schwoll die Brise an und wehte ein Flüstern heran wie das Rascheln der Blätter im Wind. Liv spürte, wie es durch sie hindurchfloss und langsam den Schmerz hinwegspülte.
»Das ist das große Geheimnis unseres Ordens«, sagte die Stimme hinter ihr. »Die Zerstörerin aller Menschen.«
Hände schoben Liv näher heran, und mehr und mehr Einzelheiten waren zu erkennen. Der senkrechte Teil des Tau war etwa so breit wie ein schmaler Baum, auch wenn die Oberfläche glatter war und aus etwas Dunklerem als Holz zu bestehen schien. Am Fuß des Tau befand sich ein Rost, durch das etwas in Kanäle sickerte, die man in den Stein gehauen hatte. Das erinnerte Liv an das Harz, das aus dem sterbenden Baum vor dem Krankenhaus von Newark gesickert war. Dort, wo die klebrige Substanz entlangfloss, hatten dünne Ranken Wurzeln geschlagen und wanden sich die seltsame, unregelmäßige Oberfläche des Tau hinauf. Livs Blick wanderte empor. Sie folgte den Ranken zu grob gefertigten Metallplatten, die miteinander verschweißt waren, um den senkrechten Balken des Tau zu bilden. Die Brise wurde wieder stärker, und diesmal brachte sie den warmen, tröstenden Duft von in der Sonne getrocknetem Gras. Livs Blick erreichte die Stelle, wo der horizontale Balken auf den dünneren Querbalken traf, und dann sah sie noch etwas anderes ... Da war etwas in dem Tau, und das Entsetzen trieb Liv die Luft aus der Lunge.
»Schau«, flüsterte der Abt, der ihr Erschrecken bemerkt hatte. Liv starrte auf einen schmalen Schlitz in der matten Metalloberfläche des Tau ... und die blassgrünen Augen erwiderten ihren Blick. »Das Geheimnis unseres Ordens. Die größte Verbrecherin der Menschheit; für ihre Untaten zum Tode verurteilt ... aber nicht zu töten. Bis heute.« Er trat vor Liv und deutete auf die Stelle, wo
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