Sand & Blut
möglich. Das Medikament wird eigentlich in der Schule bei verhaltensauffälligen Kindern eingesetzt, aber tatsächlich hat es längst seinen Siegeszug in der Leistungsgesellschaft angetreten.
Die Studenten haben damit angefangen und inzwischen ist es wohl sogar in die Arbeitswelt geschwappt. Natürlich hat das Wundermittel einen Haken. Heftige Nebenwirkungen erschweren einem das Leben. Es gehört zu den verschreibungspflichtigen Betäubungsmitteln und steht damit so ungefähr auf einer Stufe mit Kokain. Ich hatte zwei oder drei Studenten erlebt, die mir in Sprechstunden gestanden hatten, dass sie Ritalin nahmen. Viele besorgten es sich auf dem Schwarzmarkt. Der Preis, den sie mir nannten, ließ mich nur meine Augen verdrehen. Aber es lohnte sich.
Ihre Leistungen waren außergewöhnlich und sie brauchten sich um ihr Studium keine Sorgen machen. Aber die Kehrseite ließ nicht lange auf sich warten. Sie wurden fahrig, dünnhäutig und leicht reizbar.
Diskussionen brachen sie unwirsch ab und wenn jemand länger brauchte als vorgesehen, ließen sie eine darwinistische Abschätzigkeit durchblicken, die einem eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Sie waren Lern- und Sozialmonster geworden.
Am Ende kann Ritalin zu Depressionen und Suizidgedanken führen. Ich konnte mir das gut vorstellen bei denen, die ich erlebt hatte. Aber ich versuchte es trotzdem.
Der Arzt willigte nach einigem Zögern ein. Wir entschlossen uns, dass ich die Pillen aufhob und Tanjas Verbrauch damit regulierte. Am meisten überraschte mich der Preis. Auf dem Schwarzmarkt werden fünfzig Pillen für hundert Euro gehandelt. Ich hatte schon daran gedacht, sie über das Netz zu bestellen, falls wir sie nicht bekommen sollten, aber das war jetzt unnötig. Wir konnten einfach in die nächste Apotheke spazieren und eine Packung mitnehmen. Sie kostete nur fünf Euro.
Zuhause warf Tanja eine Pille ein. Nichts tat sich zunächst, doch dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fing an zu schreiben. Sie sagte kein Wort. Ich glaube, sie schaute noch nicht einmal auf. Als ich sie so beobachtete, kam ich mir vor wie bei einem Versuchsexperiment mit einer Ratte.
Sie stand erst nach fünf Stunden wieder auf, machte eine kurze Pause, redete nicht viel, konnte das Gefühl nicht beschreiben und ging dann wieder zum Schreibtisch.
Weitere vier Stunden folgten. Danach fiel sie völlig erschöpft ins Bett und schlief bis zum nächsten Morgen durch. Sie erwachte und fühlte sich wie gerädert, sagte sie. Aber ein Blick auf die vielen Seiten, die sie geschafft hatte, ließ uns beide schnell verstummen.
Am Tisch redete sie nicht viel, gab vor, dass alles okay sei, aß zwei hartgekochte Eier und trank weißen Tee. Der Arzt hatte Kaffee und grünen Tee verboten. Sobald man auf Ritalin ist, sollte man andere stimulierende Mittel meiden. Es tat mir Leid für sie, weil sie Kaffee liebte und sehnsüchtig auf meine Tasse starrte, die harmonisch duftete. Ich gab ihr die nächste Pille. Die Wirkung setzte sofort ein. Sie vergaß alles um sich herum, trottete zu ihrem Schreibtisch und arbeitete. Volle sieben Stunden. Als ich sie nach drei Stunden zu einer Pause überreden wollte, wehrte sie mich unwirsch ab.
»Jetzt nicht!«, sagte sie ohne aufzublicken. Ich sah, dass sich auf ihrer Lippe ein kleiner Blutstropfen gebildet hatte. Sie hatte die Angewohnheit bei der Arbeit auf der Lippe herumzukauen. Aber blutend hatte ich sie noch nie gesehen. Sie schien es gar nicht zu bemerken. Ich vertrieb mir derweil die Zeit mit Fernsehen und Surfen. Ich musste ja bei ihr bleiben, an meiner Arbeit gab es kaum noch etwas zu tun und so versackte ich irgendwann vor dem PC und schaute mir alte Sitcoms an. Sie hatte mich völlig vergessen. Ausgeblendet.
Am Abend fiel sie wieder wortlos ins Bett. Am nächsten Morgen war ihr Kissen mit kleinen Blutsspuren gesprenkelt. Es schien ihr nichts auszumachen. Trotz meiner Einwände bestand sie wieder auf eine Pille. Ich gab nach. Das gleiche Spiel begann von vorne. So vergingen drei Wochen. Sie arbeitete und fraß wie ein Mähdrescher. Zuerst stand ich noch in der Küche, aber dann versagte ihr Appetit und sie kochte sich nur noch dicke Kartoffeln und aß sie mit der Schale ohne irgendetwas dazu. Sie sagte, sie wolle einfach nur ihren Hunger stillen. Schmerzhunger. Sie wechselte vom Tee zu Wasser, weil ihr Urin plötzlich braun wie Bratensoße war. Ich ließ es alles geschehen. Dann waren sie fertig. Tanja und die Arbeit. Die Arbeit sah gut
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