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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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geliebte Frau bezog, das geringste Überbleibsel, womit
sie etwas zu tun gehabt hatte, und alle Erinnerungen an Zeiten, die sie
gemeinsam verlebt hatten, Hotelrechnungen zum Beispiel aus einem tschechischen
Kurort vom ersten Jahr ihrer Ehe. Der Vater hatte alles gesammelt, sorgfältig
aufbewahrt und mit einem schwarzen Band zusammengehalten. Das war das Beste und
Bitterste gewesen, was das Leben dem Vater gegeben hatte.
    Unruhig las Christoph diese
unschuldigen Briefe,
eine Zeitlang dachte er mit der Ritterlichkeit des Sohnes daran, die
geschriebenen Andenken, die vielsagenden Akten einer zu Asche zerfallenen, nie
geklärten Tragödie zu vernichten. Diese Schriften aber bewahrten das Geheimnis
zweier Menschen, die ihm das Leben geschenkt hatten. War er daher nicht
berechtigt, ihr Geheimnis zu erfahren? Doch die Briefe verrieten nichts. Es
waren vorsichtige Konzepte – Fremde schrieben einander so, Mann und Frau, die
einander kaum kennen, die vor jeder Äußerung Angst haben und die Keuschheit der
Worte tief empfinden. Ein Brief der Mutter, unmittelbar vor der Hochzeit
datiert, endete: »Ich werde alles daransetzen, daß Du mir vertrauen kannst.«
    Christoph
hob die Briefe auf, rührte sie aber nie mehr an. Doch der Satz hallte noch lange
in ihm nach wie ein ratloser Ruf. So schreibt man nur, dachte er, wenn man
Angst hat vor dem Vertrauen des Mannes. Dann dachte er an den Vater, der sein
Geheimnis bis zum letzten Augenblick gehütet hatte. Er begriff, daß der Vater
diese Frau geliebt hatte und ihr alles vergeben hätte. Was bedeuteten schon
die Worte »Flucht« und »Untreue«, wenn man liebt!
    Die Kinder wuchsen in Internaten
auf. An Feiertagen und in den Ferien kehrten sie aus drei Himmelsrichtungen in
das Elternhaus heim, das jetzt nur noch eine Mietwohnung in der Hauptstadt war,
im zweiten Stock eines Zinshauses;
der Vater hatte das alte Haus in der nordungarischen Stadt verkauft, als er
hierher versetzt wurde. Die Frau, die den Haushalt des alternden Richters
führte, war eine Verwandte, eine jener ärmlichen älteren Verwandten, die
ängstlich im Schatten der vornehmen Sippschaft leben und auch den Kindern
gegenüber nie den Ton der stellvertretenden Mutter anzuschlagen wagen. Der
jüngere Sohn, Karl, Christophs Bruder, wurde in der Kadettenschule erzogen;
Emma, die Halbschwester, lebte in einer Provinzstadt in Obhut der Grauen
Nonnen. Er selbst blieb in des Vaters Nähe, in einem geistlichen Internat, nur
eine halbe Stunde von der Hauptstadt entfernt. Die Ferien vergingen in einer
scheuen, verlegenen Stimmung, als hätten sie versäumt, miteinander bekannt zu
werden, als hätten sie eine Aussprache vermieden, nach der alles klarer und
einfacher gewesen wäre – und ohne Geheimnis. Aber nicht einer von ihnen fand
den vertrauten Ton, der das Gefühl der Fremde zwischen ihnen zerschlagen hätte.
    Christoph hoffte lange auf diese
Aussprache: Vielleicht würde sein Bruder damit beginnen, dieser Junge, in dem
die militärische Erziehung die Sehnsucht nach Mutterliebe und das Heimweh nach
der Familie nicht hatte unterdrücken können. Er litt am meisten von allen an
der einsamen Kindheit, denn die Stiefschwester war erstaunlich anspruchslos,
still und gleichmütig, als wäre sie soeben aus einem öden Traum erwacht und erwarte auch vom
Tage nicht mehr. Schließlich merkte Christoph, daß eine Aussprache gar nicht
stattfinden konnte, da manche Gegebenheiten des Lebens nicht in Worte zu
fassen und nicht in Sätzen abzuhandeln sind. Das Verhältnis der
Familienmitglieder zueinander war nicht zu ändern, wäre höchstens durch ein
Erdbeben oder einen elementaren Schicksalsschlag zu lockern. Aber auch diesen
Schicksalsschlag, der alle Fremdheit hätte zermalmen können, schien es nicht
zu geben. Der Tod des Vaters hätte vielleicht diese Bedeutung haben können –
aber als der Vater dann starb, war es zu spät. Das Verhältnis der Geschwister
zueinander war längst erstarrt.
    So waren die Ferien und die
Feiertage, die die Geschwister im Heim des Vaters verbrachten, von banger
Erwartung erfüllt: Während des Mittag- und Abendessens saß Christoph unruhig
auf seinem Platz, immer hoffte er zuversichtlich, daß jemand zu sprechen
begänne, der Bruder, der Vater vielleicht. Ja – sie würden einander ansehen,
die Gabel beiseite legen – und dann würde es geschehen! Aber es geschah
niemals etwas.
    Der Vater wurde von Jahr zu Jahr
strenger, bei Tisch ebenso wie bei den kurzen und feierlichen Besuchen in den
Internaten.

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