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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Er wurde immer mehr Oberhaupt, untadelig, genau, fragend und
erwidernd, ähnlich dem Arzt oder – dem Richter. Es war in ihm etwas gebrochen,
und der verwundete Mann war nur mehr Abwehr,
Strenge und unnahbare Zurückhaltung. Lange hatte Christoph diese Haltung als
unnötige Schroffheit empfunden; als er aber erfuhr, daß der Vater hinter
dieser spanischen Wand die Trümmer einer Katastrophe verbarg und inmitten der
Reste eines zusammengestürzten Lebens seit Jahren, seit Jahrzehnten ohne Klage,
ohne Hoffnung und ohne Pflege gleich Hiob auf dem Kehrichthaufen einsam lag,
überkam ihn tiefes Schuldgefühl.
    Die Kinder
hatten den Vater mit teils bewußter, teils unbewußter Grausamkeit in seinem
Elend allein gelassen, und dieses Elend war stolz und hochmütig ertragen
worden. Christoph hielt dies lange für männlich. Erst später änderte er seine
Ansicht, denn Männlichkeit bedeutete wohl nicht, an schier Unerträglichem
zugrunde gehen zu müssen. Vielleicht war ein Kompromiß männlicher, und manchmal
mußte man auch die Konsequenzen ziehen, sich demütigen und seine Wunden zeigen
– auch dann, wenn irgendein unsichtbares Gericht mit seinen ungeschriebenen
Gesetzen darüber urteilte. Als es ihm klar wurde, wie sehr sie den Vater allein
gelassen hatten, war es zu spät. Der Vater selbst verstellte alle Wege, die zu
ihm hätten führen können.
    Drei Jahre nach dem Krieg starb er
an einer mit übermenschlicher Kraft erduldeten qualvollen Krankheit. Die
kranke Seele hatte dem Leib die Todesgenehmigung gegeben: »Nun darfst du
gehen!« Die Zerstückelung des Landes und ein gewaltsames politisches Intermezzo
gaben dieser verletzten Seele den Gnadenstoß. Die Zeit verwundete ihn dort, wo
die Seele sich nicht mehr wehren konnte. Die Verletzung des Privatrechts hatte
er ertragen, der Verletzung der Familie und des Vaterlandes jedoch erlag er.
Viele seiner Art und seiner Generation gingen auf ähnliche Weise zugrunde, und
es waren gewiß nicht die Schlechtesten. Das Vaterland bedeutete für den Vater
den äußersten Sammelbegriff der Familie, für dessen Schicksal innerhalb der
familiären Rangordnung eine volle Verantwortung von den höhergestellten
Familienmitgliedern zu fordern war.
    Dieser
politische Schicksalsschlag traf ihn an Leib und Seele, als wäre der Körper der
Familienmitglieder verstümmelt worden, als hätte die Schmach, die das Land
verwundete, die eigene Familie getroffen. Sein Sterben glich einer Abrechnung,
es war, als würde er die Verantwortung für das Geschehene anerkennen und bezahlen.
Er wußte, daß er selbst und auch die anderen versagt hatten. Es war ein Fiasko,
wenn auch niemand sie zur Rechenschaft zog und den Kindern die Bedeutung
dieser Niederlage noch nicht zu Bewußtsein gekommen war. Es war ein Fiasko,
daran gab es nichts zu rütteln – wenn man auch künstlich und manchmal zu einem
grausamen Preis die Abrechnung verschieben konnte.
    Monatelang lag er im Krankenbett,
aber seine Geduld verlor er erst in der letzten Woche. Damals, einige Stunden
vor dem Todeskampf, schleppte er sich in einem unbewachten Augenblick in sein
Arbeitszimmer und kramte aus der Schublade seines Schreibtischs eine altmodische
Pistole hervor – aber er brach mit der Waffe in der Hand zusammen und blieb
unter den Familienporträts liegen. Da fand man ihn, und wenig später fiel er in
Agonie. Die Pistole und einige Familienbilder waren alles, was Christoph aus
des Vaters Nachlaß für sich behielt. Unter den Bildern befand sich auch eine
kolorierte Aufnahme der Mutter. Fragend und mißtrauisch blickt sie dem
Beschauer entgegen, in einer schwarzen Seidenbluse, die mit einer Kameenbrosche
am Halsausschnitt zusammengehalten ist – auf dem Arm hält sie den einjährigen
Christoph. Es war, als wollte sie sagen: »Ich habe recht trotz allem. Wer wagt
dies zu leugnen!« Die Fotografie war in der ersten Zeit der Ehe aufgenommen
worden, und Kömüves hängte sie in seinem Arbeitszimmer über den Schreibtisch,
gegenüber dem Bildnis seines Vaters.

4
    Christoph
Kömüves wuchs in geistlichen Internaten auf und erinnerte sich gern an diese
Erziehung. Er war ein gläubiger Mann, von jener Frömmigkeit erfüllt, die
durchaus nicht allein das Produkt einer Erziehung ist. Der Vater beachtete wohl
die Gebote der Religion, erschien an den großen Feiertagen in der Kirche und
empfing zu Ostern die Kommunion, aber Christoph wußte nicht, ob er regelmäßig
zur Beichte ging, auch überraschte er den Vater nie bei freiwilligen

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