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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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geistlichen
Exerzitien. Nie sprach der Vater mit den Kindern über den Glauben, und nie
suchte er ihre seelischen Nöte und Fragen zu erforschen.
    Einmal
jährlich, am letzten Nachmittag des alten Jahres, ging er mit den Kindern in
die Innenstädter Kirche. Sie setzten sich in eine der hintersten Bänke des
halbdunklen Raumes, der zu dieser Stunde von Leuten überfüllt war, die das Jahr
über nie ein Gotteshaus betraten. An diesem Tage jedoch, an dem Gewissen,
Angst und Schuldbewußtsein Bilanz zogen, schienen Hoffnung oder Verzweiflung
sie zu jenem Unbekannten zu führen, der anhört, ohne
zu antworten, und zur Kenntnis nimmt, ohne zu fragen. Die Menschen saßen und
knieten in ehrfürchtigem Schweigen in den Bänken, und Christoph fühlte
deutlich, daß auch der Vater zu diesen Gelegenheitsfrommen gehörte. Jedes Jahr
gingen sie in den Sonntagskleidern in die feuchte, kalte Kirche und saßen
stumm in strenger Rangordnung in der Bank: rechts vom Vater Emma, dann
Christoph und schließlich Karl.
    Christoph
fürchtete sich vor diesem letzten Nachmittag, wie er bei sich diesen merkwürdigen
Kirchenbesuch nannte – er fürchtete sich, und er bemitleidete zugleich den
Vater. Vielleicht besaß jede Familie einen eigenen religiösen Kalender, in dem
die Todestage, die freiwilligen Fastentage solch intime Feiertage bedeuteten,
an denen man einem höheren, nur geahnten Wesen huldigte. Der Vater hatte den
letzten Tag des Jahres für diese Huldigung ausersehen, und so saßen sie stumm
nebeneinander, ohne eigentlich zu begreifen, was er wollte. Man ging am Sonntag
und an den großen Feiertagen zur Kirche, zuweilen auch wochentags, wenn jemand
gestorben war oder wenn die religiösen Gebote es erforderten – des Vaters
Verhalten zu Jahresschluß aber war seltsam und erregte bei seinen Kindern
Verwunderung und Furcht. Jedes Jahr bereiteten sie sich darauf vor wie auf eine
beängstigende Trauerzeremonie oder ein Begräbnis.
    Frühmorgens
hatte der Vater schon seinen schwarzen Salonrock an, und das Mittagessen
verlief feierlich und schweigsam wie immer. Dann saßen sie in der Kirche, und
der Vater barg sein Gesicht in den Händen, stützte beide Ellbogen auf die
Knie, aber er bekreuzigte sich nicht und las auch nicht im Gebetbuch.
Anderthalb Stunden kauerten sie so, bis die Kinder vor Kälte zu zittern
anfingen. Dann ging der Vater mit ihnen in die innere Stadt, blieb vor
Schaufenstern stehen und fragte nach ihren Wünschen. An diesem Tag erfüllte er
all ihr Begehren – aber nach dem, was vorangegangen war, und noch gehemmt
durch die jüngst geschauten düsteren und kalten Bilder, wagten sie kaum, etwas
zu »begehren.«
    Wenn die
Geschwister dies auch nie besprachen, so schonten sie doch, einem ängstlichen
Gefühl folgend, übereinstimmend die gelegentliche Freigebigkeit des Vaters.
Sie wünschten nur nützliche Dinge, die ihnen keine Freude bereiteten:
Handschuhe, Strümpfe oder Schulartikel – und mit feierlicher Bereitwilligkeit
erstand es der Vater. Ja, auch wenn sie nie darüber sprachen, sie wußten es
mit der Verschwiegenheit Mitschuldiger, warum der Vater an diesem Tage so
wohltätig gesinnt war: An diesem Tage wollte er büßen! Nur wußten sie nicht,
woran er schuldig zu sein glaubte. Jedenfalls wurde die Bescherung zu
Jahresschluß von Christoph als Buße bezeichnet. Waren die Geschwister auch nicht
offen zueinander, so verrieten sie sich doch durch ihr Schweigen. Wahrscheinlich
wäre der Vater peinlich berührt gewesen, wenn einer von ihnen an diesem
Nachmittag Überflüssiges verlangt hätte – ein Spielzeug vielleicht,
Toilettenartikel oder Leckerbissen –, nein, nicht einmal denken durfte man an
so etwas. Als Karl noch ein kleiner Bub war, brach er bei diesem Rundgang meist
in Tränen aus, er wagte es nicht, seine Wünsche zu äußern, und blieb ganz
stumm. Den Bleistift oder Zirkel, den der Vater mit schaustellerischer
Großzügigkeit gekauft hatte, hielt er steif vor sich hin, verbarg die Sachen
zu Hause in einer Schublade und rührte sie nie mehr an.
    Christoph
beobachtete schon früh, daß von ihnen dreien Karl es war, der die selbstsichere
strenge Linie der väterlichen Erziehung am wenigsten ertrug. Er war immer
schweigsam an den Feiertagen, traurig und appetitlos, und Christoph, der ihn
mit dem gönnerhaften Wohlwollen des älteren Bruders behandelte, überraschte
ihn nachts oft dabei, wie er im Dunkeln weinte. Christoph selbst fühlte sich im
geistlichen Internat wohl und sehnte sich nicht nach dem

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